Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Asien wächst weiter

Von der Krise bisher wenig beeindruckt, verringert die Boomregion den Abstand zu Europa. Spitzenreiter bleibt China, gefolgt von Indien

Von Wolfgang Pomrehn *

Während Europa seit Jahren vor sich hinkriselt und die Bundesregierung den Anschein erweckt, als habe das alles aber auch gar nichts mit der hiesigen Niedriglohnpolitik und dem chronischen deutschen Handelsbilanzüberschuß zu tun, hat der Internationale Währungsfonds (IWF) den Kontinent inzwischen zum Gefahrenherd für die Weltwirtschaft erklärt. Olivier Blanchard, ökonomischer Berater des Fonds, hatte vergangene Woche auf einer Pressekonferenz in Washington gewarnt, daß die Probleme Europas die Welt in eine Rezession stürzen könnten. Seine Chefin, die IWF-Direktorin Christine Lagarde, hatte, wie berichtet, nahezu zeitgleich in Berlin eine Wachstumspolitik für den Euroraum gefordert. Das war immerhin eine unausgesprochene Abkehr von 30 Jahren knallharter neoliberaler Politik. Gemeinsam mit der Weltbank hatte der IWF seit der Schuldenkrise der 1980er Jahre allen überschuldeten Ländern, die sich bei ihm Geld borgen mußten, harte Sparmaßnahmen, Privatisierungsprogramme und drastische Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben auferlegt. Nicht zuletzt während der Asienkrise 1997/98 führte dies durch das Abwürgen der Konjunktur zu einer erheblichen Verschärfung der Krise, die Millionen Menschen in bittere Armut zurückwarf.

Anders als die lateinamerikanischen und afrikanischen Länder, die mehrere Jahrzehnte brauchten, um sich von den Eingriffen des IWF zu erholen, schafften die Tigerstaaten Ost- und Südostasiens dies jedoch im Rekordtempo. Zum einen hatten sie Glück, daß gerade zu jener Zeit ihre Absatzmärkte in Europa und Nordamerika relativ stark wuchsen. Zum anderen half ihnen das aufstrebende China, das zu einem neuen Abnehmer ihrer Ausfuhren wurde. Schließlich haben sie in den Folgejahren auch untereinander ihre Handelsbeziehungen erheblich ausgebaut. Waren die meisten Staaten der Region Ende der 1990er Jahre noch weitgehend auf den Warenaustausch mit den alten industriellen Metropolen fixiert, so haben heute zum Beispiel die zehn Mitglieder der südostasiatischen Allianz ASEAN ihre Volkswirtschaften schon fast so eng verflochten, wie die Staaten der Europäischen Union. Bis 2015 soll nach deren Vorbild eine ASEAN-Gemeinschaft entstehen.

Bei den Ökonomen in der Region, im Südosten wie auch im Rest Asiens, abgesehen von Japan, herrscht derweil Optimismus vor. Die nordatlantische Finanzkrise ab 2008 wurde nur als kleine Delle im insgesamt positiven Konjunkturverlauf erlebt. Entsprechend sagt die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) Asien auch für das neue Jahr noch ein durchschnittliches Wachstum von sieben Prozent voraus. Ausgenommen bleibt dabei allerdings das kriselnde Japan, das noch immer unter den Folgen des Tsunamis vom 11. März 2011 und der Reaktorkatastrophe im AKW Fukushima Daiichi leidet.

Gegenüber den Vorjahren sind die prognostizierten sieben Prozent allerdings schon eine leichte Abkühlung. 2010 waren Asiens Volkswirtschaften um beachtliche neun Prozent expandiert und 2011 immer noch um 7,5 Prozent. ADB-Chef Haruhiko Kuroda sieht in diesem Rückgang die Auswirkungen der europäischen Finanzkrise. Als Spitzenreiter sieht Kuroda auch 2012 weiter China, dem er ein Wachstum von über acht Prozent zutraut. Der Volksrepublik auf den Fersen folgt in der ADB-Prognose Indien mit sieben bis acht Prozent. Dem Land wurde ja vor einigen Jahren schon prophezeit, es würde demnächst China überholen, aber davon ist es trotz anhaltend kräftigen Wachstums noch immer weit entfernt. Mit 1220 US-Dollar beträgt das indische Pro-Kopf-Nationaleinkommen gerade ein Drittel des chinesischen. Auf Platz drei in Kurodas Rangliste folgt Indonesien. Dem 240-Millionen-Land traut der Japaner für 2012 ein Wachstum von 6,5 Prozent zu. Der über zahllose Inseln verteilte Staat hat im letzten Jahrzehnt eine beachtliche Entwicklung durchlaufen. Anders als Indien und China war er Ende der 1990er Jahre hart von der Asienkrise getroffen worden. Die damit verbundenen politischen Unruhen hatten aber immerhin den Sturz der Diktatur zur Folge, die die Region in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts peinigte.

In Indonesien führte seinerzeit die drastische Abwertung der Landeswährung und die nachfolgenden harten Sparauflagen des IWF zu einem starken wirtschaftlichen Einbruch und der Verelendung einiger Dutzend Millionen Menschen. Seit dem Jahr 2000 wächst die Wirtschaft wieder und seit 2004 jeweils um die fünf Prozent pro Jahr oder stärker. Das Pro-Kopf-Nationaleinkommen liegt, in Kaufkraftparitäten berechnet, mit 3720 US-Dollar über dem indischen Wert (3280) aber unter dem dem chinesischen (6890). Wie in den anderen beiden Staaten ist der Reichtum allerdings sehr ungleichmäßig verteilt. 100 Millionen Indonesier leben noch immer von weniger als 2,5 US-Dollar pro Tag. Außerdem ist der indonesische Erfolg bisher auf Sand gebaut, denn er basiert vor allem auf Rohstoffexporten. Doch die schaffen wenig qualifizierte Arbeitsplätze, und die meiste Wertschöpfung geschieht außerhalb des Landes. Wenn die Kohle-, Öl und Erzlagerstätten irgendwann erschöpft sind oder die Preise wieder verfallen, wie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, dann steht das Exportland vor dem Nichts, wenn es den Reichtum nicht rechtzeitig in seine Industrialisierung investiert hat. Doch davon ist in Indonesien bisher wenig zu sehen.

* Aus: junge Welt, 30. Januar 2012


Zurück zur Asien-Seite

Zurück zur Homepage