Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wie sich das offizielle China sieht: "Tiger Asiens"

Peking-Rundschau: "Nach zwei Jahrhunderten der Weltherrschaft des Westens beginnen China und Indien, sich unter die führenden Länder der zukünftigen Welt einzureihen"


Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der deutschen Ausgabe der "Peking-Rundschau", einem offiziellen Sprachrohr der chinesischen Regierungspolitik. Es geht darin um die Annäherung zwischen der Volksrepublik China und Indien und der weltpolitischen Rolle, die beide künftig spielen könnten.



China und Indien: Tiger Asiens

China und Indien haben mit ihrem erstaunlichen Wirtschaftswachstum, das nicht nur die Wirtschaft und Politik Asiens, sondern auch die der Welt überhaupt, beeinflusst, die globale Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Nach zwei Jahrhunderten der Weltherrschaft des Westens beginnen China und Indien, sich unter die führenden Länder der zukünftigen Welt einzureihen.

Von Barleen Monarch & Ding Zhitao

Genau wie Kommentatoren das 20. Jahrhundert als ein „Jahrhundert Amerikas“ bezeichnen, wird das 21. Jahrhundert möglicherweise als eine Zeit Asiens, geführt von China und Indien, betrachtet werden. Dieser Kommentar von einem Bericht, der Anfang dieses Jahres von U.S. National Intelligence Council (NIC) unter dem Titel „Zukünftige Landkarte der Erde“ veröffentlicht wurde, widerspiegelt die Ansicht vieler über die dritte Strömung der Globalisierung der Welt, die Ende des 16. Jahrhunderts mit portugiesischen und spanischen Forschungsreisenden begann und durch die Herrschaft des Westens über den Osten nach der industriellen Revolution und der Gründung der Vereinigten Staaten Amerikas Ende des 18. Jahrhunderts fortgesetzt wurde. China ist zwar einst ein Wirtschaftsgigant der Welt gewesen, aber bis zum Ende des letzten Jahrhunderts hatten die USA und Europa in der Weltwirtschaft immer eine dominierende Stellung inne.

Wie das aktuelle Leben wiederholt sich die Geschichte oft. Heute läuft das Rad der Geschichte auf Hochtouren. China ist zweifelsohne die erste Wahl für die meisten Hersteller der Welt, und Indien schreitet vorwärts, um das Entwicklungs- und Dienstleistungszentrum für Software in der Welt zu werden.

Seit der Unabhängigkeitserklärung der beiden asiatischen Giganten sind bereits über 50 Jahre verstrichen. Wenn sie als ein Ganzes betrachtet werden, so werden sie mit einer Bevölkerung von mehr als 2,4 Mrd., einer schnell wachsenden mittelständischen Klasse, einer expandierenden Kaufkraft, einer politischen Führung mit Selbstvertrauen und konkurrenzfähigen Firmen von Weltklasse notwendigerweise zu einem ernstzunehmenden Faktor in der Weltwirtschaft werden.

Was die Bevölkerung Chinas und Indiens anbelangt, wird sie nach den Statistiken des US-amerikanischen Statistikamtes im Jahr 2020 auf 1,4 Mrd. bzw. 1,3 Mrd. steigen. Das bedeutet, dass sie bedeutende Wirtschaftsmächte sein werden, selbst wenn ihr Lebensstandard den der westlichen entwickelten Länder noch nicht erreichen kann. China ist bereits der drittgrößte Hersteller der Welt geworden und wird voraussichtlich in einigen Jahren Japan überholen. Auch im Export haben die chinesischen Waren eine große Überlegenheit. Indien bleibt momentan in vielen Wirtschaftsindizes hinter China zurück. Trotzdem glauben viele Wirtschaftswissenschaftler, dass Indien ein hohes Wirtschaftsentwicklungstempo beibehalten wird.

Chinas Wirtschaft wächst jährlich um etwa 9%, und Indiens Wirtschaft steigt jährlich um 8% an. Das Wirtschaftsvolumen Chinas wird im Jahr 2010 voraussichtlich doppelt so viel wie das von Deutschland sein und im Jahr 2020 das von Japan, das gegenwärtig zweitgrößte in der Welt, überholen. Wenn Indien in den kommenden 50 Jahren eine 6prozentige Wachstumsrate beibehalten kann, wie einige finanzielle Analysten meinen, würde es bis dahin China ein- oder überholen.

Auf jeden Fall kann man sehen, dass China seit der Einführung seiner Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978 riesige Erfolge erzielt hat. Das Leben der Chinesen war einst schlechter als das ihres südlichen Nachbarlandes. Heute ist China besser als Indien hinsichtlich des Pro-Kopf-BIPs, der Lebenserwartung, der Lese- und Schreibfähigkeit von Erwachsenen und der Sterblichkeit von Neugeborenen.

Indien öffnete erst im Jahr 1991 der Außenwelt das Tor seiner Wirtschaft, aber es hat seine eigenen Stärken im Vergleich zu seinem großen Nachbarland. Sein Unternehmertum scheint vitaler als Chinas Entwicklungsmodell, das durch das ausländische Investment angetrieben und vom Export angeleitet wird, zu sein, und die Software, die pharmazeutische Industrie, die Biotechnologie, das Annoncenwesen und sogar das Filmwesen Indiens stellen China in den Schatten.

Im NIC-Bericht hieß es, obwohl Indien in vieler Hinsicht, insbesondere im BIP, hinter China zurückbleibe, habe es jedoch viele Stärken. Die Zahl der Arbeitskräfte Indiens wird im Jahr 2020 voraussichtich weiter steigen. Im Gegensatz dazu wird die Zahl der Arbeitskräfte Chinas wegen der Durchführung der Familienplanungspolitik senken. Darüber hinaus verfügt Indien über einen reifen Kapitalmarkt und erstklassige Firmen im High-Tech-Sektor, in dieser Hinsicht kann China nicht mit Indien Schritt halten.

Was den Dienstleistungssektor anbelangt, nutzt Indien so gut wie möglich seine gut gebildeten Arbeitskräfte, seine Informationsindustrie und seine Popularisierung der englischen Sprache aus. Der Dienstleistungssektor in China ist derzeit noch rückständig. Dieser Sektor macht normalerweise 60% der Wirtschaftstätigkeiten in den entwickelten Ländern aus.

Amartya Sen, ein Nobel-Wirtschaftspreisträger, äußerte, dass es falsch sei, China und Indien als Konkurrenten zu betrachten. Er ist der Ansicht, dass beide Länder ihre eigenen Besonderheiten hätten und voneinander lernen könnten.

Dieser in Indien geborene Professor für Wirtschaft und Philosophie an der Harvard-Universität, betonte, dass ein wichtiger Beitrag der chinesischen Wirtschaft für die Welt darin liege, dass viele Länder, insbesondere Indien, von Chinas Erfahrungen lernen könnten.

Zweifelsohne ist die Wirtschaftsentwicklung Indiens wegen des Verständnisses der Welt für die chinesische Wirtschaft beeinflusst worden. Ohne Chinas Erfahrungen wäre Indiens Wirtschaftsreform und Öffnung mit noch mehr Schwierigkeiten konfrontiert gewesen, fügte Sen hinzu.

Momentan bemühen sich China und Indien um eine politische Stellung, die ihrer wirtschaftlichen Stellung entspricht.

China hat seinen Weg der friedlichen Entwicklung bestimmt und spielt in regionalen und internationalen Angelegenheiten eine wichtige Rolle, um einen Betrag zum Frieden und zur Stabilität der Welt zu leisten. Chinas Beziehungen zu anderen Großmächten der Welt entwickeln sich stabil, und die freundschaftliche und gutnachbarschaftliche Politik ist ein Kennzeichen der weitblickenden Strategie Beijings. China hat zudem sowohl als Beteiligter als auch als Sponsor eine Doppelrolle in der multilateralen Diplomatie gespielt. Es hat aktiv an dem APEC-Gipfeltreffen, der Asiatisch-Europäischen Konferenz, dem Gipfeltreffen zwischen ASEAN-Ländern und China, dem China-EU-Gipfeltreffen, dem Chinesisch-Afrikanischen Forum u. a. teilgenommen. Darüber hinaus hat Beijing drei Runden der Sechsergespräche über die Nuklearfrage auf der Koreanischen Halbinsel veranstaltet, die bisher als der einzige effektive Kanal für die Lösung dieser Frage betrachtet werden.

Seit seiner Befreiung von der Kolonialherrschaft träumt Indien immer davon, seine politische Stellung auf der Weltbühne zu erhöhen. Es strebt stets nach der Beibehaltung und Stärkung seines Einflusses in Südasien und einem ständigen Platz im UN-Sicherheitsrat. Indiens Ablehnung der ausländischen Hilfe nach dem Tsunami letzten Dezember spiegelt auch seine Entschlossenheit wider, zu einem verantwortungsbewussten Land zu werden. Seine unverzügliche Hilfe für Sri Lanka, die Malediven und Indonesien, die vom Tsunami heimgesucht wurden, machte einen tiefen und positiven Eindruck auf die Region.

Die politischen Beziehungen zwischen China und Indien haben sich in den letzten Jahren merklich verbessert, insbesondere nach dem China-Besuch des ehemaligen indischen Außenministers George Fermandes während der SARS-Epidemie in China im Frühjahr 2003 sowie der anschließenden China-Reise des ehemaligen indischen Premierministers Atal Behari Vajpayee. Im April dieses Jahres stattet der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao Neu-Delhi einen offiziellen Besuch ab, um mit indischen Führern mehr politische Konsense zu erzielen. Die beiden Länder haben das Potenzial, das politische Gefüge der Welt zu verändern, und treten für den Multilateralismus ein.

Als Entwicklungsländer sind China und Indien im Zuge ihrer jeweiligen Wirtschaftsentwicklung mit ihren eigenen Schwierigkeiten konfrontiert, insbesondere der großen Zahl der Landbevölkerung, die wenig von der Wirtschaftsentwicklung profitiert, und der potenziell katastrophalen HIV/AIDS-Epidemie, die die Wirtschaftsaussichten ernsthaft beeinträchtigen kann, falls sie nicht unter Kontrolle gebracht wird. Statistiken von UNAIDS zufolge machen die 7,4 Mio. HIV/AIDS-Virusträger in Indien über 60% der Gesamtzahl der HIV/AIDS-Virusträger in der asiatisch-pazifischen Region aus.

Besonders erwähnenswert ist, dass die schnell wachsende Wirtschaft zu einer zunehmenden Nachfrage nach Energie geführt hat. Als der sechstgrößte Energieverbraucher in der Welt befindet sich Indien in einer noch schwierigeren Lage als sein Nachbarland, da zwei Drittel seines Ölverbrauchs importiert werden, während China nur ein Drittel seines Rohölverbrauchs importiert. Darüber hinaus erfreut sich China seiner verifizierten Ölreserven von 18 Mrd. Barrels, im Vergleich mit denen Indiens von 5 Mrd. Barrels.

Im NIC-Bericht hieß es weiter, dass Indien nicht ausreichende Attraktion für ausländisches Investment habe und auf dem Weg zur Wirtschaftsreform mit starken politischen Herausforderungen konfrontiert sei. Ein weiteres großes Hindernis für die Entwicklung Indiens sei die riesige Zahl der Bevölkerung, die in tiefster Armut lebt. Sowohl China als auch Indien seien mit der ernsthaften Herausforderung der Vergrößerung der gesellschaftlichen Polarisierung konfrontiert.

Beobachter prophezeien, dass ein großer Anteil des Wirtschaftswachstums der Welt wahrscheinlich von der Industrialisierung Chinas und Indiens stammen würde.

Um ihre politischen und wirtschaftlichen Einflüsse besser zur Geltung zu bringen, müssen die Führer beider Länder einen politischen Weitblick haben. Als sie ihre Gläser erheben, um auf den 55. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern zu trinken, müssen sie sich an ihre langjährige Freundschaft, gefördert von Mao Zedong und Jawaharlal Nehru, sowie ihre Verantwortung für die Pflege dieser Freundschaft erinnern.

Aus: Beijing-Rundschau, Nr. 15/2005
http://www.bjrundschau.com/2005-15/2005.15-tb-1.htm



Zurück zur Asien-Seite

Zur China-Seite

Zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage