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Aufgetauter Konflikt

Nach 20 halbwegs ruhigen Jahren droht der Streit um Nagorny-Karabach wieder zu eskalieren

Von Reinhard Lauterbach *

Der armenisch-aserbaidschanische Streit über die Bergregion Nagorny-Karabach im Transkaukasus wurde lange Zeit zu den sogenannten »eingefrorenen Konflikten« in den Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion gezählt. Der Begriff bezeichnet eine Reihe bewaffnet ausgetragener Auseinandersetzungen, die im Zuge des Aufflammens der Nationalismen während der Gorbatschowschen Perestroika begannen und noch für einige Zeit nach dem Ende der UdSSR fortdauerten, bevor Mitte der 1990er Jahre unter internationaler Vermittlung Waffenstillstände ausgehandelt wurden. Friedensschlüsse waren das nicht. Die zugrundeliegenden Konflikte wurden nicht beigelegt, sondern nur stillgestellt. Die entstandenen Staatsgebilde sind in der Regel nicht oder nur in geringem Umfang international anerkannt.

Jetzt scheint in diesen »eingefrorenen Konflikt« wieder Bewegung zu kommen. Seit Ende Juli wurden an der Waffenstillstandslinie zwischen dem armenisch bevölkerten, aber auf aserbaidschanischem Gebiet liegenden Nagorny-Karabach und Aserbaidschan mehrere bewaffnete Zusammenstöße registriert, die etwa 20 Soldaten auf beiden Seiten das Leben kosteten. Beide Seiten beschuldigten sich wechselseitig, mit den Angriffen begonnen zu haben, aber selbst das vom US-Kongreß finanzierte Radio Liberty konstatierte dieser Tage in einer Analyse, es sei wahrscheinlicher, daß Aserbaidschan die Kämpfe provoziert habe. Denn Armeniens Armee ist nicht nur um den Faktor zwei bis drei schwächer als die des östlichen Nachbarlandes; Armenien habe auch politisch nichts davon zu gewinnen, den zerbrechlichen Status quo in Frage zu stellen. Der verschafft Armenien immerhin die faktische Kontrolle über das strittige Gebiet und darüber hinaus etliche aserbaidschanische Landkreise, die die armenische Armee Anfang der 1990er Jahre erobert hatte, weil sie eine Landbrücke zwischen Nagorny-Karabach und dem eigentlichen Armenien bilden.

Aserbaidschan dagegen hat seine militärische Niederlage in dem Konflikt vor gut 20 Jahren nie verwunden und nie aufgehört, Ansprüche auf eine Rückeroberung der Region zu erheben, die mit 4400 Quadratkilometern nur etwas größer als das Saarland ist. Zudem hat die Regierung in Baku – anders als das auf russische Subventionen angewiesene Armenien – durch seinen Ölreichtum viel Geld in die Staatskasse bekommen und diese Mittel in eine deutliche Aufrüstung investiert. Und das Land – de facto eine korrupte Diktatur der Familie des letzten sowjetischen Republikparteichefs Hajdar Alijew – wurde seit dem Zerfall der UdSSR vom Westen umworben: als alternative Quelle für Öl und Gas und als potentielles Transitland für zentralasiatische Rohstoffe unter Umgehung Rußlands.

Bisher sind zwar die kühnen Träume von einer Energieversorgung aus dem kaspischen Raum unter Umgehung Rußlands nicht ansatzweise eingetreten, und das Bauvorhaben einer pompös beworbenen Pipeline namens »Nabucco« mußte 2013 wegen fehlender Lieferzusagen sang- und klanglos beerdigt werden. Doch es ist nicht auszuschließen, daß Aserbaidschan beschlossen hat, im Bewußtsein seiner Bedeutung für die antirussische Strategie der USA und der EU sein nationales Süppchen wieder zum Kochen zu bringen.

Rußlands Präsident Wladimir Putin hat auf die Nachricht von den neuen Kämpfen im Südkaukasus schnell reagiert und am 9. August die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans in Sotschi zu getrennten Gesprächen empfangen. Über Ergebnisse ist nichts bekanntgeworden, aber aus russischer Sicht bietet die Eskalation nur schlechte Alternativen. Selbst das mit Moskau verbündete Armenien verbat sich eine eventuelle russische Friedens­truppe in Nagorny-Karabach. Unterstützt Moskau Armenien zu deutlich, stehen die in den vergangenen Jahren wieder halbwegs in Ordnung gebrachten Beziehungen zu Aserbaidschan auf dem Spiel. Tut es das aber nicht, droht nicht nur der Verlust des letzten befreundeten Staates im Südkaukasus, sondern für Putin persönlich ein zweiter Gesichtsverlust nach dem, der gerade im Donbass droht.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 13. August 2014


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