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Nach der Wahl: Keine Aufrufe zu Aufständen oder gar einer "samtenen Revolution"

Viele Unregelmäßigkeiten - aber kein Zweifel am Sieg der Regierungspartei "Jeni Aserbaidschan"

Die Wahlen in Aserbeidschan am 6. November brachten keine Überraschung. Auch der "Aufstand" der Opposition, die das Wahlergebnis natürlich nicht anerkennen will, blieb bisher aus. Im Folgenden dokumentieren wir einige Agenturmeldungen von Nowosti sowie ausgewählte Pressestimmen zum Wahlausgang.



RIA Nowosti, 7. November 2005 (22.49 Uhr)

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sieht keinen Grund, an der Legitimität der jüngsten Parlamentswahlen in der transkaukasischen Republik Aserbaidschan zu zweifeln. "Nach Einschätzung Ruschailos gab es gewisse Verstöße, die aber die Legitimität der Wahl nicht in Zweifel ziehen können", sagte Lawrow am Montag vor der Presse im montenegrinischen Podgorica. (Wladimir Ruschailo ist Exekutivsekretär der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS).
Im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wie auch der GUS habe Russland eine große Zahl von Beobachtern zur Wahl nach Aserbaidschan entsandt. "Wir haben objektive Informationen, die uns eine Einschätzung dieser Wahl ermöglichen", sagte Lawrow.


Keine samtene Revolution in Aserbaidschan

MOSKAU, 07. November (Arseni Palijewski, RIA Nowosti). Die alarmierenden Prognosen über eine mögliche samtene Revolution bei den jetzigen Parlamentswahlen in Aserbaidschan haben sich nicht bestätigt.

Das machten die Oppositionsführer mit ihren flauen Erklärungen deutlich. Sie beurteilten den Demokratiegrad der Wahlen zwar unterschiedlich, dennoch riefen sie ihre Anhänger nicht zum Aufstand auf.

Der Opposition mangelt es an Kraft und Ressourcen, um eine Revolution durchführen zu können, sagt Sergej Markedonow vom Institut für politische und militärische Analyse. "Ansonsten hätten sich in Baku die Geschehnisse von Georgien und der Ukraine wiederholt. Solche Dinge können nicht aufgeschoben werden."

Der Wahlsieg der Regierungspartei Jeni Aserbaidschan ist nach Ansicht der Experten, mit denen RIA Nowosti gesprochen hat, ein überzeugender Beweis dafür, dass Präsident Ilcham Alijew ein Politiker ist, der es versteht, zu gewinnen. Trotz der schwierigen Bedingungen, die sich im Vorfeld der Wahlen herausbildeten, konnte Alijew eine Spaltung unter seinen Befürwortern verhindern.

"Eines der größten Probleme für die Machthaber bei der Durchführung der Wahlen im postsowjetischen Raum besteht darin, dass eine Vielzahl der Beamten ihre Interessen differenziert und Eier in verschiedene Körbe legt", sagt Alexej Makarkin, stellvertretender Direktor des Zentrums für politische Technologien. "Das erleichtert die Organisation von so genannten ‚orange Revolutionen' wesentlich, weil die Machthaber innerlich entkräftet zur Wahl antreten und weil viele Akteure ein doppeltes Spiel betreiben. Ilcham Alijew machte die Opposition innerhalb der Regierung unschädlich, indem er deren wichtigste Vertreter wegen 'Verschwörung und finanziellen Missbrauchs' verhaften ließ, was deren Ruf in den Augen der Bevölkerung untergrub."

Der jetzige Stand der Dinge ist im Prinzip sowohl für Russland als auch für den Westen akzeptabel. Den USA war sehr daran gelegen, dass Baku kompetitive und verhältnismäßig transparente Wahlen durchführt. Diese Bedingung wurde erfüllt. Die Opposition konnte sogar nicht wenig Stimmen auf sich vereinigen. Es ist zudem anzunehmen, dass Amerika wie der Westen insgesamt seine Einstellung zu den samtenen Revolutionen in einem gewissen Maße verändert hat, sagt Alexej Makarkin. "Eine wichtige Rolle spielte dabei Kirgisien, wo die Revolution statt der vom Westen angestrebten Transformation des Regimes Akajew und einer Stärkung der Opposition nur Chaos und einen zunehmenden Einfluss der Kriminalität herbeiführte. Dort entstand eine Situation, in der sich der Westen bislang nicht zurechtfinden kann. In Aserbaidschan sind solche Ereignisse auch darum unerwünscht, weil dieser Ölstaat mit Blick auf die Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan für die Amerikaner strategisch wichtig ist."

Diese Meinung teilt auch Sergej Markedonow, dem zufolge Moskau, Washington und Baku die gleichen Interessen haben. "Nämlich, weil ein destabilisiertes Aserbaidschan, so wie es unter Präsident Elçibey und unter der Volksfront war, sowohl Russland als auch dem Westen Kopfschmerzen bereiten würde. Ich sehe darin einen der Gründe, warum die westlichen Staaten nicht auf die Opposition gesetzt hatten. Das bedeutet aber ganz und gar nicht, dass die Machthaber in Aserbaidschan die Hände in den Schoß legen können. Die oppositionellen Stimmungen in der aserbaidschanischen Gesellschaft sind ziemlich stark. Daraus ergibt sich die Gefahr, dass, wenn die akuten Probleme des Staates oder der Gesellschaft nicht gelöst werden, die Opposition eine islamische Färbung annehmen kann."

Warum ist der jetzige Ereignisgang für Russland annehmbar? Anders als die eindeutig antirussisch gesinnte Opposition in Aserbaidschan berücksichtigt Ilcham Alijew gewissermaßen sowohl die Interessen Moskaus als auch die von Washington und Teheran. Es ist zwar kaum zu erwarten, dass Aljews Politik nun prorussischer wird, doch einige wichtige Interessen der Russischen Föderation werden sehr wahrscheinlich wahrgenommen: Baku lässt keine amerikanischen Militärobjekte auf seinem Territorium zu (das würde seine Beziehungen sowohl zu Russland als auch zum Iran untergraben) und die säkuläre Führung in Baku wird nach Möglichkeit die Verbreitung des radikalen Islam und des internationalen Terrorismus verhindern.

RIA Nowosti, 7. November 2005 (20.27 Uhr)


RIA Nowosti, 7. November 2005 (17.20 Uhr)

Der Beobachter der OSZE-Mission, Igor Borissow, Chef des Russischen Öffentlichen Instituts für Wahlrecht, hat die Tätigkeit der Mission bei den Wahlen in Aserbaidschan mit einer Hexenjagd verglichen.

In einem Interview für RIA Nowosti sagte er, das OSZE-Hauptquartier in Aserbaidschan habe sich ständig nur auf die Suche nach Wahlverstößen konzentriert. Bei der gestrigen Stimmabgabe seien zwar keine wesentlichen Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. "Doch die durchgeführten Wahlen brachten neue, eigentlich jedoch alte, längst vergessene Methoden ans Tageslicht", stellte er fest.

Mobile Gruppen der OSZE seien anonymen Anrufen wegen vermeintlicher Wahlverstöße nachgegangen, so auch Borissow persönlich, nachdem mitgeteilt worden war, es sei der Versuch unternommen worden, Wähler zu bestechen. Vor Ort angelangt, fragten Borissows Kollegen die Wähler, ob das Geld für sie verteilt wurde. Da hätten sich die dortigen Bewohner plötzlich interessiert gezeigt, wo man für seine Stimmenabgabe Geld bekommen könne.

Der Oppositionsblock Asadlyg ("Freiheit") habe signalisiert, dass in dem Ort Bunut die Durchführung eines Meetings verhindert worden sei, doch die Beobachter hätten bei ihrer Ankunft keine Behinderungen feststellen können.

So seien die mobilen OSZE-Gruppen wie zu einer Hexenjagd durch das ganze Land gescheucht worden, meint Borissow. Mehr noch, die von der OSZE-Mission und der Venezianer Kommission für transparente Wahlen ergriffenen Maßnahmen hätten zu Verworrenheit und einer Verkomplizierung der Prozedur der Willensäußerung geführt.

Borissow beanstandete ferner die von der OSZE geforderte Markierung der Finger der Wähler mit unsichtbarer Farbe. Da die Wähler bei der Stimmenabgabe ohnehin ihr Personaldokument und ihre Wahlbenachrichtigung vorlegen mussten, hätte die Kennzeichnung der Finger nicht den erwarteten Effekt gebracht. In der Praxis sei es nur komplizierter geworden, den dreifachen Schutz zu überprüfen, stellte Borissow fest.


RIA Nowosti, 7. November 2005 (15.16 Uhr)

Die Parlamentswahlen in Aserbaidschan sind entsprechend den Normen der geltenden Gesetzgebung durchgeführt worden. Das geht aus einem Bericht der internationalen GUS-Beobachter zum Ablauf der Wahlen hervor.
"Einzelne Verletzungen und Versäumnisse im Prozess der Wahlkampagne haben keinen Massencharakter getragen und keinen wesentlichen Einfluss auf die freie Willenserklärung der Wähler und auf die Ergebnisse der Abstimmung gehabt", heißt es im Bericht.

In den meisten Wahllokalen erfolgte die Stimmabgabe in einer ruhigen, geschäftlichen Atmosphäre. Zugleich wurden einzelne Verletzungen des Wahlprozesses fixiert: Stimmabgabe "in Vertretung" von Verwandten; Aushang der Wählerlisten im Abstimmungsraum; Agitation am Wahltag; fehlende Informationen über Abgeordnetenkandidaten.

Außerdem wurden Umfragen mit Verletzungen vorgenommen, meinen GUS-Beobachter. Solche Umfragen geben keine glaubwürdigen Informationen über den Wahlprozess, und ihre Ergebnisse dürfen nicht berücksichtigt werden. "All das lässt auf zahlreiche Fakten der Fälschung bei der Durchführung der Umfragen während der Wahlen zum Parlament von Aserbaidschan schlussfolgern", heißt es im Bericht. Darin wird betont, dass bei der Zentralen Wahlkommission von Aserbaidschan 1050 Anträge und Beschwerden über Verletzungen der Normen der Wahlgesetzgebung eingereicht wurden.

Nach Meinung der GUS-Beobachter werden die Wahlen zum Parlament der Republik zu einem wirksamen Faktor der Stabilisierung der gesellschaftspolitischen Situation im Lande, der Aktivierung des Prozesses der Herausbildung einer demokratischen Gesellschaft, der Hebung des Wohlstandes der Bevölkerung und der weiteren Integration Aserbaidschans in internationale Strukturen werden.


Ordnungskräfte

Die Opposition in Aserbaidschan darf am heutigen Dienstag demonstrieren, und zwar in einem Vorort der Hauptstadt Baku. Sie verweist auf Wahlmanipulationen. Von denen wollen zwar manche Beobachter - vorwiegend aus GUS-Staaten - nichts bemerkt haben, manche - aus dem westlichen Ausland - jedoch eine ganze Menge. Hübsche Tricks darunter, nicht nur die vorsorgliche Füllung von Wahlurnen vor Öffnung der Lokale. So kandidierten gegen Oppositionspolitiker manche Bewerber, die rein zufällig genau so hießen wie die Herausforderer. Und zwischen den Wahlnachfragen und der Bekanntgabe der Ergebnisse stieg der Anteil der Stimmen für Regierungskandidaten auf wundersame Weise.

Die Opposition hofft, mit dem Mittel friedlicher Demonstrationen einen ähnlich umfassenden Protest gegen Wahlbetrug einleiten zu können wie vor einem Jahr in der Ukraine. Auf das Wohlwollen der USA und deren Unterstützung demokratischer Veränderung kann sie sich jedoch nicht verlassen. Den USA - und Russland - ist daran gelegen, möglich nichts in Bewegung zu setzen, was die Verhältnisse ins Rutschen bringt. Den USA nicht, weil die neue Pipeline Baku-Ceyhan ungestört funktionieren soll. Russland nicht, weil es keine irgendwie gefärbte Revolution mag. Die Ordnungskräfte sind sich diesmal einig.

Karl Grobe

Aus: Frankfurter Rundschau, 8. November 2005


Opposition sieht sich betrogen

Nach der Parlamentswahl in Aserbaidschan zeichnet sich eine Machtprobe zwischen der laut amtlichem Ergebnis geschlagenen Opposition und der Regierung ab. Das wichtigste Oppositionsbündnis Asadlik (Freiheit) erklärte am Montag, es erkenne den Wahlausgang wegen Manipulation nicht an und rief für Mittwoch zu Massenprotesten auf. Beobachter bestätigten Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung am Sonntag und erklärten, die Wahl habe nicht internationalen Standards entsprochen.

Nach Auszählung der Stimmen aus fast 93 Prozent der Wahlbezirke lagen die Kandidaten der Regierungspartei von Präsident Ilham Alijew am Montag in 62 der 125 Bezirke vorn. Unabhängige Kandidaten führten demnach in 42 Bezirken, Politiker der Opposition in zehn, wie die Wahlkommission mitteilte. Die Wahlbeteiligung betrug 46,8 Prozent.

Die Opposition hat sich nach dem Vorbild der Ukraine die Farbe Orange gegeben und hofft auf Intervention der USA und der EU. Allerdings sind diese mit der derzeitigen Regierung Alijews zufrieden, da diese Investitionen und Ölfluß garantiert.

Aus: junge Welt, 8. November 2005


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