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Berg-Karabach - Aserbaidshans offene Wunde

ND-SERIE: Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und ihre "eingefrorenen Konflikte"

Von Heiko Langner *

Durch den jüngsten Krieg im Kaukasus sind die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der lockere Verbund ehemaliger Sowjetrepubliken, und ihre »eingefrorenen Konflikte« wieder ins Blickfeld gerückt. Der Fünf-Tage-Krieg in und um Südossetien hat immerhin deutlich gemacht, wie schnell solche Konflikte hochkochen können. ND wird in einer losen Folge von Beiträgen unterschiedlicher Art Spannungsherde und Weiterungen des Kaukasus-Krieges im »postsowjetischen« Raum beleuchten. Den Auftakt dieser Serie bildet der folgende Beitrag, den unser Autor Heiko Langner nach einem Besuch im südkaukasischen Aserbaidshan verfasst hat. Er schildert die Sicht seiner Gesprächspartner auf den aserbaidshanisch-armenischen Konflikt um Berg-Karabach wie überhaupt Aserbaidshans Verhältnis zu unmittelbaren Nachbarn und weiter entfernt liegenden Mächten.

Aserbaidshans Hauptstadt Baku gleicht einer mitteleuropäischen Metropole. Die recht junge Bevölkerung pflegt einen westlichen Lebensstil. Architektonisch mischt sich der neoklassizistische Monumentalstil der Sowjetära mit landestypischen Ornamenten, die der Stadt eine orientalische Prägung verleihen.

Nach der Stagnationsphase im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion befindet sich die Wirtschaft Aserbaidshans seit gut zehn Jahren in einem anhaltenden Aufschwung. Symbolfigur des damit verbundenen nationalen Wiederaufstiegs ist der verstorbene Präsident Hejdar Alijew, der Vater des derzeitigen Präsidenten Ilham Alijew, dem auch nach seinem Ableben noch immer tiefe Verehrung zuteil wird. Obwohl von dem Wirtschaftsaufschwung bei weitem noch nicht alle Bevölkerungsgruppen profitieren, hat sich eine wachsende Mittelschicht gebildet. Binnen weniger Jahre ist der Anteil der offiziell anerkannten Armutsbevölkerung von über 45 auf 16 Prozent gesunken.

In den auswärtigen Beziehungen Aserbaidshans -- besonders im Energie- und Wirtschaftsbereich -- spielt Deutschland eine große Rolle. Baku wünscht sich mehr Direkt-investitionen deutscher Unternehmen. Traditionell gilt Deutschland in Aserbaidshan als befreundetes Land. Sein Ansehen geht auf deutsche Einwanderer zurück, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Aserbaidshan niederließen und neue Produktionsmethoden im Weinanbau und in der Landwirtschaft einführten. Die deutsche Siedlungsgeschichte wird heutzutage -- auch von der Politik -- romantisch verklärt, so dass das Auftauchen von »Almanlar« (Deutschen) bisweilen überschwängliche Emotionen auslöst.

Der »Erbfeind« ist und bleibt Armenien

Der ungelöste Konflikt um Berg-Karabach, zu Zeiten der Sowjetunion ein autonomes, überwiegend von Armeniern bewohntes Gebiet innerhalb der Aserbaidschanischen SSR, ist eine Art offene Wunde für das Land. Bereits im Frühjahr wurde der Waffenstillstand, der offiziell seit 1994 an der Demarkationslinie um Berg-Karabach gilt, schwer verletzt. Es gab mehrere Tote und Verwundete.

Doch nicht nur dieser Auch die Unruhen vor und nach den Präsidentenwahlen in Georgien und Armenien zu Jahresbeginn ließen auf den Entwicklungsstand von Demokratie und Rechtstaatlichkeit in der Region schließen. Dabei sind die drei südkaukasischen Republiken seit 2004 im Rahmen von Aktionsplänen offizielle Partnerstaaten der EU-Nachbarschaftspolitik geworden, womit sie ihre »proeuropäische« Orientierung unterstreichen.

Aufgrund seiner geopolitischen Lage in einer rohstoffreichen Konfliktregion sieht sich Aserbaidshan zu einer außenpolitischen Balance genötigt. Priorität haben die weitere Annäherung an Europa sowie die Stärkung der eigenen Souveränität durch äquidistante Beziehungen zu den im Südkaukasus aktiven Großmächten Russland und USA.

Problemnachbar Nummer 1 und »Erbfeind« ist und bleibt Armenien, zu dem Baku wegen des Konflikts um Berg-Karabach keinerlei diplomatische Beziehungen unterhält. Seit Ende des Krieges 1994 sind Berg-Karabach und weitere sieben Provinzen Aserbaidshans außerhalb des einstigen Autonomiegebiets armenisch besetzt. Während des Krieges wurden mehrere zehntausend Zivilisten getötet. Aus den okkupierten Gebieten wurde die aserbaidshanische Bevölkerung restlos vertrieben, über eine Million Aserbaidshanerinnen und Aserbaidshaner wurden zu Flüchtlingen und Vertriebenen im eigenen Land, was erhebliche soziale Verwerfungen mit sich brachte.

Völkerrechtlich scheint die Lage eindeutig: Da beide Staaten - Armenien wie Aserbaidshan - ihre Unabhängigkeit in jenen Grenzen erlangten, die sie zuletzt als Sowjetrepubliken hatten, ist Berg-Karabach ein integraler Bestandteil Aserbaidshans. Das von Armenien vorgebrachte Argument, die Karabach-Armenier hätten ein Recht auf nationale Selbstbestimmung, wird von der Mehrheit der Völkerrechtsexperten zurückgewiesen: Eine Trennung erfordere gegenseitiges Einvernehmen, folglich sei die gewaltsame, einseitige Abspaltung Berg-Karabachs unter Ausschluss und vollständiger Vertreibung des aserbaidshanischen Bevölkerungsteils rechtswidrig.

Als Menetekel dient das Schicksal Serbiens

Die völkerrechtlichen Parallelen zum Konflikt um Kosovo sind unübersehbar. Gesprächspartner im Bakuer Außenministerium und im Nationalparlament erklären, dass Aserbaidshan eben deshalb die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos nicht anerkennt. In der politischen Elite herrscht parteiübergreifend Einigkeit: Aserbaidshan darf nicht das Schicksal Serbiens erleiden. Eine Anerkennung Abchasiens und Südossetiens dürfte für Baku aus den gleichen Gründen unzumutbar sein. Auch wenn Aserbaidshan eine friedliche Beilegung des Karabach-Konflikts vorzöge, will man für den Fall einer internationalen Anerkennung des separatistischen Regimes einen Militärschlag nicht gänzlich ausschließen.

Umworben von Moskau wie von Washington

Die Beziehungen zum südlichen Nachbarn Iran sind ebenfalls nicht spannungsfrei. Ein Grund ist die Gegensätzlichkeit der Staatsmodelle. Iran hat in der Vergangenheit versucht, die im Süden Aserbaidshans lebende iranischsprachige Minderheit der Talyschen auszunutzen, um auf eine stärkere Islamisierung der aserbaidshanischen Gesellschaft hinzuwirken. Auch iranische Rundfunksender strahlen in die Region hinein. Umgekehrt misstraut Teheran den lauter werdenden Autonomieforderungen der »Südaserbaidshaner«, der etwa 25 Millionen Angehörige zählenden größten nationalen Minderheit Irans. Das Mullahregime sieht darin ein Einfallstor für säkulare Demokratisierungsbestrebungen, die eine Gefahr für die »islamische Revolution« bedeuten könnten.

Aserbaidshans Beziehungen zur Türkei sind dagegen aufgrund kultureller und sprachlicher Nähe sehr freundschaftlich. Obgleich die Aserbaidshaner ein Turkvolk sind, sehen sie sich selbst aber nicht als Türken, sondern als eigenständige Nation.

Russland fährt im Südkaukasus politisch auf zwei Gleisen. Während des Krieges um Berg-Karabach wechselte Moskau auf die Seite der Armenier und legte damit nach aserbaidshanischer Auffassung erst die Grundlage für deren militärischen Erfolg. Doch schon während Wladimir Putins Präsidentschaft verbesserten sich die Beziehungen zu Baku stetig. Mit dem Besuch Dmitri Medwedjews in Baku vor einigen Wochen erreichte die russisch-aserbaidshanische Wiederannäherung einen Höhepunkt. Der Kreml hat ein starkes Interesse am Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, um auch seine sicherheitspolitische Situation zu verbessern. Moskau geht es darum, den Bau weiterer Öl- und Gaspipelines zu verhindern, die russisches Territorium umgehen. Und es will das Vordringen der NATO in den Südkaukasusraum erschweren. Baku dürfte dies wiederum auch von russischer Hilfestellung bei der Lösung des Karabach-Konflikts abhängig machen. Eine russisch-aserbaidshanische Annäherung besäße eine reale zivilgesellschaftliche Basis: In beiden Ländern sind durchaus Sympathien füreinander spürbar. Dies äußert sich auch in einem differenzierten Umgang mit dem Erbe der Sowjetunion, das in Aserbaidshan nicht einseitig negativ beurteilt wird.

Die Politik der USA ist nicht minder ambivalent. Gegenüber Baku bekennt sich Washington stets zur territorialen Integrität und Souveränität Aserbaidshans. Andererseits beobachtet man in Baku argwöhnisch, dass Armenien pro Kopf der Bevölkerung am meisten US-amerikanische Entwicklungshilfe erhält (mehr noch als Israel). Als sicher gilt, dass ein Großteil dieses Geldes über Jerewan nach Berg-Karabach fließt. Darüber hinaus sind die USA das einzige Land weltweit, das zusätzlich den international nicht anerkannten Separatstaat mit offiziellen Hilfsgeldern unterstützt.

Muslimische Geistliche zeigen sich tolerant

Was die Demokratie-Entwicklung betrifft, hat Aserbaidshan mit den typischen Problemen eines postsowjetischen Transformationsstaates zu kämpfen, die im Rahmen des EU-Monitorings häufig kritisiert werden. Unerwähnt bleibt dabei meist, dass das Land in einigen Bereichen - beispielsweise in der Integrations- und Minderheitenpolitik - EU-Standards längst übertrifft. Die EU benutzt im Umgang mit Staaten, die mitten in einem langwierigen demokratischen Aufbauprozess stecken, häufig unterschiedliche Maßstäbe, die eigene Demokratiedefizite einschließlich der strukturellen Diskriminierung von Minderheiten ausblenden.

In der aserbaidshanischen Gesellschaft dominiert ein säkulares, pragmatisches Islamverständnis mit großer Toleranz für andere Religionen. Eine Begegnung mit Sheikh-ul-Islam Allahshukur Pasha-zadeh, dem obersten Repräsentanten der kaukasischen Muslime, und anderen geistlichen Würdenträgern vermittelte einen Eindruck von Multikulturalität und Toleranz in der aserbaidshanischen Gesellschaft. An dem Treffen nahmen auch zwei Vertreter der jüdischen Gemeinschaft, der sogenannten Bergjuden und der aschkenasischen Juden, ein Repräsentant der russisch-orthodoxen Kirche sowie ein Ordinator der römisch-katholischen Kirche teil.

Gut 90 Prozent der Bevölkerung haben einen islamischen (mehrheitlich schiitischen) Religionshintergrund, doch nur ein Bruchteil davon praktiziert dieses Glaubensbekenntnis regelmäßig. Glaubt man den Geistlichen, unterhalten die Religionsgemeinschaften freundschaftliche Beziehungen zueinander. Im Jahr 2003 wurde in Baku eine neue Synagoge eröffnet, es handelte sich um den ersten Synagogen-Neubau in der ganzen muslimischen Welt. Die muslimische Gemeinschaft beteiligte sich finanziell am Bau, auch der russisch-orthodoxen Kirche stiftete sie eine Kirchenglocke. Ein laizistisches Staatsverständnis erfordere den politischen Willen zur Gleichbehandlung aller Religionen ebenso wie den institutionalisierten Dialog der Religionsvertreter, betonte Sheikh-ul-Islam.

Kein Wunder, dass Antisemitismus, Pauschalverdächtigungen von Muslimen und Widerstände gegen repräsentative Moscheebauten in Deutschland bei den aserbaidshanischen Gastgebern auf Unverständnis stießen.

Mehr als eine Million Flüchtlinge

Bedingt durch Flucht und Vertreibung während des Karabach-Krieges sind über eine Million Aserbaidshanerinnen und Aserbaidshaner -- mehr als ein Achtel der Gesamtbevölkerung -- Flüchtlinge. Aufgrund von Familiennachwuchs nimmt ihre Zahl stetig zu, woraus erhebliche soziale und innenpolitische Spannungen resultieren. Die Regierung hat nicht zuletzt dank der verbesserten Wirtschaftslage umfangreiche Flüchtlingsprogramme aufgelegt, so dass die schlimmste Not gelindert werden konnte. Die Staatsausgaben für Flüchtlingshilfen belaufen sich momentan auf 275 Millionen Dollar pro Jahr, dazu kommen 25 Millionen Dollar internationale Flüchtlingshilfe. Infolgedessen müssen Flüchtlinge nicht mehr in primitiven Zeltlagern oder ausrangierten Eisenbahnwaggons campieren. Die Qualität der festen Unterkünfte ist dennoch sehr unterschiedlich.

Ein Lager in Imischli, unweit der Grenze zu Iran, ist beispielsweise nichts anderes als eine Ansammlung von Blechlauben, in denen es im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt ist. Die hygienischen und sanitären Bedingungen sind bestenfalls geeignet, den Ausbruch von Seuchen zu verhindern. Die Lebenssituation der Flüchtlinge, denen es an Perspektiven mangelt, ist bedrückend. Zudem leiden sie unter dem Desinteresse der internationalen Öffentlichkeit. Aserbaidshan beschuldigt die Armenier, während des Krieges eine Politik ethnischer Säuberungen praktiziert zu haben, die nach den Normen des Völkerrechts als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten wäre.

Ein anderes Lager bei Biläsuwar besteht praktisch aus elf neu errichteten Wohnvierteln, in denen 20 000 Vertriebene aus Dschabrail Unterkunft gefunden haben. Das Flüchtlingsprojekt lässt sich am besten als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe charakterisieren. Es handelt sich um solide gebaute Wohnhäuser, in jedem Viertel gibt es eine Schule und eine Ambulanz sowie für alle Viertel zusammen ein großes Krankenhaus.

Der Selbstbehauptungswille der Menschen ist beeindruckend: Mit sichtlichem Stolz berichtete der Bürgermeister des Flüchtlingsrayons, Mahmud Kulijew, dass ein Großteil der Nahrungsmittel durch eigenen Anbau gewonnen wird. Jeder Flüchtlingsfamilie stehe mindestens ein Hektar landwirtschaftlicher Anbaufläche zu. Der Staat gewähre darüber hinaus umfassende Sachleistungen: Strom- und Wasserversorgung seien kostenlos, ebenso der Schulbesuch und die medizinische Behandlung. Das gesamte Schulpersonal, die Ärzte und Krankenschwestern sind selbst Vertriebene aus Dschabrail, wie auch der Bürgermeister. Kulijew, heute 57 Jahre alt, wurde mit 42 Jahren vertrieben und betrachtet den Einsatz für die Rechte der Flüchtlinge als seine Lebensaufgabe. Trotz ihrer vergleichsweise gut bewältigten Situation wollen er und die meisten Flüchtlinge die Hoffnung nicht aufgeben, ihr altes Zuhause eines Tages doch wiederzusehen und dorthin zurückkehren zu können. Betroffene wie er zeigen überraschend wenig Groll gegen Armenier: »Wir haben zuvor lange Zeit friedlich Seite an Seite miteinander gelebt, warum sollte dies nicht mehr möglich sein?«


Aserbaidshan ist die größte und bevölkerungsreichste der drei ehemals sowjetischen Republiken im Südkaukasus, die sich als unabhängige Staaten konstituiert haben. Auf 86.600 Quadratkilometern leben rund 8,5 Millionen Menschen.
Dank der Erdölvorkommen im und am Kaspischen Meer verfügt das Land sowohl absolut wie auch pro Kopf der Bevölkerung über ein höheres Bruttoinlandsprodukt als seine südkaukasischen Nachbarn. Präsident Ilham Alijew trat 2003 die Nachfolge seines Vaters Hejdar Alijew an, der - früher Mitglied des KPdSU-Politbüros - 1993 wieder an die Spitze des Staates gelangt war.




* Aus: Neues Deutschland, 20. September 2008


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