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Aserbaidschans Ziel ist eine souveräne Demokratie

Demokratie ist zwar die beste Form der Volksmacht, sie lässt sich aber kaum exportieren

Von Elnur Aslanow *

Vor einigen Tagen bin ich in der „Financial Times“ auf folgenden interessanten Gedanken gestoßen: „In den letzten zwei Jahrzehnten verschwinden die autokratischen Regimes aus der Welt. Der Fall von Diktaturen führt aber des öfteren nicht zu einer Demokratie, sondern zum Chaos.“ Vor dem Hintergrund der entstehenden neuen Weltordnung wird das unverhüllte Streben immer offensichtlicher, die „Erweiterung der Zone von Freiheit und Demokratie“ in eine globale Intervention und eine umfassende Durchsetzung bestimmter Verhaltensnormen und -klischees zu verwandeln.

Den Gesellschaften, denen die Prinzipien der demokratischen Herrschaft bisher fremd waren, werden Verhaltensregeln künstlich aufgezwungen, die die Zugehörigkeit zur einheitlichen Zivilisation von Harry Potter und der Rockgruppe Lordi widerspiegeln.

Demokratie ist eine Form der zivilisierten politischen Rivalität, in der die stärksten Vertreter der Prominenz der jeweiligen Gesellschaft gegeneinander antreten. Damit wird in keiner Weise die Tatsache in Zweifel gezogen, dass die Demokratie die beste Form der Volksmacht ist, weil die Menschheit sonst nichts Besseres erfunden hat. Dieser Kampf erfolgt aber zwischen Eliten, Spitzenfiguren und jenen, die die Entwicklungsstrategie für die Zukunft konzipieren. Deshalb sollte die Demokratie ausschließlich als ein Produkt der inneren Entwicklung eines Soziums betrachtet werden. Außerdem liegen der Herstellung einer Demokratie Frieden, Stabilität und die konstante Entwicklung der Gesellschaft zu Grunde.

Die Sucht der Menschen aber, alles Leben zu vernichten, und die Zügellosigkeit, mit der der Mensch seinesgleichen ausrottet, haben dazu geführt, dass die Erde allein in den letzten 550 Jahren 15 000 Kriege und bewaffnete Konflikte erlebt hat, bei denen 3,5 Milliarden Menschen getötet wurden. Bedauerlicherweise wächst diese Zahl ständig.

So gibt es in der Ration der neuen Ideen, die eine globale Intervention irgendwie begründen könnten, Anfang des 21. Jahrhunderts nichts außer Demokratie. Das für die gesamte Menschheit typische Motiv zu herrschen fördert einerseits die Angst vor einer „Macht des Volkes“ bei den Tyrannen, zugleich lässt es einen günstigen Aufmarschraum für die neue Intervention - die „Expansion der Volksmacht“ - entstehen.

Natürlich ist die Wahl der richtigen und aussichtsreichen nationalen Entwicklungsstrategie für diejenigen Gesellschaften besonders kompliziert, die heute von einem System zu einem anderen übergehen und dabei dem Einfluss solcher Erscheinungen wie „Modernisierung“, „Westernisierung“ und „Multikulturalismus“ ausgesetzt werden, die praktisch ein inneres oder ein äußeres Andersdenken ablehnen.

Die Weltordnung, die heutzutage durchgesetzt wird, schließt faktisch die Existenz mehrerer Machtzentren oder Pole aus und lässt die Ideen der demokratischen Romantik zweifelhaft erscheinen. Das fand in der vor kurzem gehaltenen Rede von George Bush, in der die neue Irak-Strategie dargelegt wurde, einen markanten Niederschlag. Diese Rede zeugt zugleich davon, dass sich die Demokratie kaum ungehindert mit Gewalt von außen aufzwingen lässt. Das Problem liegt aber viel tiefer. Obgleich die Herrscher und die Formen der Herrschaft im Laufe der Zeit einander abgelöst haben, blieb das Wesen unverändert: Die Welt wird von den Stärksten beherrscht. Das Problem besteht aber darin, ob die Stärksten die Welt ruhiger und problemloser machen.

Heute ist die Welt nicht weniger gefährlich geworden. Eher umgekehrt. Einige Subjekte der internationalen Beziehungen sind weiterhin einer harten Bündnis- bzw. ideologischen Disziplin untergeordnet. Obgleich die Nachfrage nach einer alleinigen Spitzenrolle in globaler Hinsicht so gut wie kaum noch besteht, ist die neue Situation vorerst noch nicht richtig erfasst worden. Wir sind Zeugen einer gestörten polyzentrischen Balance im Rahmen multilateraler Institute. Das wirkt sich auch auf die Gestaltung der Politik gegenüber den Übergangsgesellschaften aus, in welche gewisse Szenarien „samtener Revolutionen“ exportiert werden, womit aber eigennützige geopolitische bzw. geoökonomische Interessen durchgesetzt werden.

Der Universalisierung der demokratischen Werte wird auch mit Versuchen geschadet, sich unter der Fahne „des Schutzes der Demokratie“ in innere Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, diese unter politischen Druck zu setzen, Doppelstandards bei der Einschätzung von Wahlprozessen sowie des Stands der Bürgerrechte und -freiheiten aufzuzwingen. Natürlich entsteht dann die Frage: Kann die westliche Form der Demokratie, die eine „harte Gewalt“ anwendet und in neue Bereiche expandiert, als Muster für nicht-westliche Gesellschaften gelten? Die Unvereinbarkeit der westlichen Demokratie und der inneren institutionellen Gepflogenheiten der nicht-westlichen Gesellschaften wird offenbar zur Grundlage für eine globale Konfrontation.

Unter solchen Bedingungen ist Demokratie für eine moderne Industriegesellschaft funktionaler als Autoritarismus. Das Hauptziel der Republik Aserbaidschan, die sich heute in einer Übergangsphase befindet, besteht darin, ein stabiles demokratisches System herzustellen. Das bedeutet aber nicht, dass dies auf dem Wege einer chaotischen Anpflanzung neuer Verhaltensnormen und Denkweisen geschehen soll. Der nationale Weg zur Demokratie muss im Kontext der Umgestaltungen betrachtet werden, die unser Land konkret braucht. Eine der Grundbedingungen besteht hier in einer schrittweisen ökonomischen Entwicklung, denn die Gewährleistung der finanziellen Unabhängigkeit eines Staates schafft Voraussetzungen für eine Steigerung des Wohlstands seiner Bürger, was auch einen Wechsel der Verhaltensstimmungen nach sich zieht. Nicht unwichtig ist auch eine Verstärkung der regionalen Bedeutung des Staates wie auch gezielte Investitionen in die Bürger des Landes, deren kreatives und geistiges Potential zur wichtigsten Ressource für die Gewährleistung der Konkurrenzfähigkeit des Staates in der Welt von morgen wird.

Die Grundwerte der Demokratie haben zweifellos einen universellen Charakter, sie werden aber in jedem einzelnen Land unter Berücksichtigung der Traditionen, der Kultur und der nationalen Besonderheiten realisiert. Das findet seinen Niederschlag in der Verhaltenstaktik der Führung eines Landes im In- und Ausland. Die Demokratie muss einen souveränen Charakter haben, gerade in der Souveränität steckt das Erfolgsrezept für die nationale Entwicklungsstrategie.

Die souveräne Demokratie muss den inneren Kontext der nationalen Entwicklung, die Philosophie des nationalen „Ich“ und das soziokulturelle Segment der Nation - im konkreten Fall der aserbaidschanischen - widerspiegeln. Diese Faktoren prägen die Perspektive der nationalen Entwicklungsstrategie, die die Möglichkeit bieten wird, Aserbaidschan in nächster Zukunft in einen hochentwickelten Staat mit stabilen demokratischen Werten und Traditionen sowie einer reifen zivilen Gesellschaft zu verwandeln.

* Der Autor, Elnur Aslanow, ist Berater des Administrationschefs des aserbaidschanischen Präsidenten und Mitglied des Expertenrates von RIA Novosti.

Aus: RIA Novosti (russische Nachrichtenagentur), 24. Januar 2007;
im Internet: http://de.rian.ru



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