Tristesse in der Bergrepublik
Die Armenier in Bergkarabach schließen einen Anschluss an Aserbaidshan weiterhin aus
Von André Widmer, Stepanakert *
16 Jahre nach dem Ausbruch des armenisch-aserbaidshanischen Krieges um die kaukasische
Zwergrepublik herrscht in Bergkarabach angespannte Ruhe. Wirtschaftlich ist das isolierte Gebiet
heute stark von Armenien abhängig und profitiert auch von Geldern einer weltweiten Diaspora.
Nach einem halben Tag Fahrt mit dem Sammeltaxi von Armeniens Hauptstadt Jerewan ins
entlegene Gebiet ist Stepanakert erreicht. Hinter Tälern und kargen, alpinen Hochebenen, vorbei an
Dörfern mit vielen Häusern, von denen nur noch überwucherte Grundmauern zu sehen sind, liegt ein
Land, das man im Kaukasus den »gebirgigen schwarzen Garten« nennt: Bergkarabach.
Dessen Hauptstadt Stepanakert hat nach dem blutigen Krieg von 1992 bis 1994 in den letzten
Jahren einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Die Stadt versprüht
postsowjetischen Charme. Es wurde viel gebaut. Spuren des Waffengangs zwischen Aserbaidshan
und dem von Armenien und einem russischen Regiment unterstützen Militär der Karabach-Armenier
sind in der heute etwa 40 000 Einwohner zählenden Kapitale kaum noch zu finden. »Hier sah es
nach dem Krieg wie in Sarajevo oder Grosny aus«, sagt ein Offizier der Karabacharmee, der gerade
an der Taxistation steht und seine Familie in Jerewan besuchen will. Doch schon der Blick auf die
Rückseite der belebten Hauptstraße und in die Seitengassen offenbart die wirkliche Situation im
isolierten Bergkarabach: trostlose Hinterhöfe, Metallverschläge, Balkone mit freigesetzten
Armierungseisen, die bedrohlich über Gehwegen hängen.
Gelangweilte Leute schauen aus den Fenstern. Die offiziellen Zahlen sprechen von zehn Prozent
Arbeitslosigkeit, in Wahrheit dürfte jedoch jeder Zweite ohne feste Anstellung sein.
Viel Sonnenschein und häufige, fast allabendliche Gewitter machen den »schwarzen Garten«
Bergkarabach fruchtbar. Vor allem Weintrauben, Maulbeeren und Weizen werden hier angebaut. Die
Landwirtschaft ist zwar ein tragender Zweig der Wirtschaft, doch sie hat die Folgen des Krieges stark
zu spüren bekommen. Von etwa 160 000 Tonnen Weintrauben vor dem Krieg sank die
Jahresproduktion auf 3250 Tonnen. Weite Landstriche können nicht genutzt werden, weil nach wie
vor Millionen Minen in den Böden liegen, was auch einen gut vorstellbaren Tourismus nahezu
unmöglich macht. Die geschmacklich famosen Tomaten, Kartoffeln, Melonen und Trauben aus dem
»schwarzen Garten« reichen kaum für die Grundversorgung aus; zum Teil müssen
landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Armenien importiert werden.
Geld kommt von Auslandsarmeniern
So buhlt man um ausländische Investoren und wirbt offiziell mit den niedrigen Lohnkosten. Ein
Monatslohn beträgt gerade mal 30 Euro. Die Regierung verweist stolz auf Investitionen aus den
USA, der Schweiz, Russland und Australien. Doch Nachforschungen nach entsprechenden
Unternehmen verlaufen im Sande, und in den wenigen überprüfbaren Fällen stellt sich heraus, dass
es sich bei den Investoren fast ausnahmslos um Unternehmer der armenischen Diaspora handelt.
Ein in Moskau wohnender Exilarmenier beispielsweise lässt eine Kupfermine betreiben. Viele der
Arbeiter wohnen in den umliegenden Dörfern, die Ingenieure stammen aus Armenien. Der mit 15
Millionen US-Dollar größte Investor ist aber die Karabach Telecom von Pierre M. Fattouch aus
Libanon, wo ebenfalls eine große armenische Diaspora lebt. Die als Monopolistin agierende Firma
beschäftigt 30 Mitarbeiter, ließ ein Mobilfunknetz installieren und will nun das veraltete Festnetz auf
Vordermann bringen. Am wichtigsten war das Geld der Auslandsarmenier jedoch für den Bau der
über 300 Kilometer langen Verbindungsstraße zwischen dem armenischen Jerewan und Karabach,
denn Flug- und Zugverbindungen ruhen seit dem Krieg. Tanklastwagen aus Iran versorgen die
christliche Enklave über diese Straße auch mit Gas und Benzin. Kein Wunder: Die islamische
Republik ist praktisch der einzige Nachbar Armeniens, zu dem das Land einigermaßen gute
Beziehungen pflegt.
Verlassene Orte, nur noch Faustpfänder
Eine Fahrt über Land mit dem etwa 50-jährigen Fahrer namens Ararat verdeutlicht die Situation
außerhalb der Hauptstadt. Je näher die Ortschaften an der Waffenstillstandslinie liegen, desto
weniger Menschen sieht man. Manche Dörfer sich nur noch zur Hälfte bewohnt: Ihre
aserbaidshanischen Bewohner sind geflohen. In Schuschi beispielsweise lebten einst 16 000
Menschen, mehrheitlich aserbaidshanischer Abstammung. Beschädigte Wohnblocks mit
Brandspuren, Ruinen, zerbombt und ausgehöhlt, säumen die Straßen. Im Zentrum des Städtchens,
neben der einstigen Markthalle, steht immerhin noch die Moschee. Ihre Minarette ragen, von
Kriegsspuren gezeichnet, in den Himmel. Heute wohnen nur noch 3000 Karabach-Armenier in
Schuschi.
Außerhalb von Askeran steht ein Panzerdenkmal. Verwelkte Blumen liegen auf dem Sockel. Das
Rohr des Kriegsgefährts zeigt in Richtung Agdam, dahinter liegt die Demarkationslinie zu
Aserbaidshan. Zwei Kilometer vor Agdam ruft der Fahrer plötzlich »Milizija!« und wendet den
Wagen. Der Besuch des Sperrgebiets ist nur mit einer Sondererlaubnis des
Verteidigungsministeriums möglich.
Agdam ist ein Extrembeispiel der ethnischen Umwälzungen: Einst wohnten dort 100 000 Menschen,
fast alle Aserbaidshaner. Jetzt ist die Stadt völlig verlassen und wird von Soldaten Karabachs
kontrolliert. Auf manchen armenischen Landkarten ist Agdam gar nicht mehr eingezeichnet, obwohl
es im besetzten, aber nicht beanspruchten Niemandsland außerhalb Bergkarabachs liegt und als
Verhandlungsmasse dient, als Faustpfand. Viele der aserbaidshanischen Flüchtlinge aus diesen
Gebieten, aber auch aus Karabach und Armenien, leben in Zentralaserbaidshan noch immer in sehr
ärmlichen Verhältnissen.
»Die Wunden sind noch zu frisch«
Zurück in Stepanakert, bleibt die Frage nach der Zukunft der international nicht anerkannten
Republik Bergkarabach und der angrenzenden Gebiete. Bemühungen der Minsker Gruppe der
OSZE unter Beteiligung Russlands, Frankreichs und der USA brachten bisher keine Lösung. Auch
nicht die Treffen der Präsidenten Aserbaidshans und Armeniens, zuletzt anlässlich des GUS-Gipfels
im Juni in St. Petersburg. Aserbaidshan bietet Bergkarabach einen Autonomiestatus an, den die
armenische Seite jedoch ablehnt. Die Angst vor Unterdrückung, wie sie auch die im Krieg aus
Aserbaidshan geflüchteten 400 000 Armenier beklagt hatten, ist zu groß.
Die Fronten sind nach wie vor starr. Vertreter der Regierung Bergkarabachs sind von allen
Verhandlungen ausgeschlossen. Für Bako Sahakjan, der letztes Jahr mit 85 Prozent der Stimmen
zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, ist jedoch klar, dass es keine Rückkehr zu
Aserbaidshan geben wird: »Der damalige Autonomiestatus war doch gerade der Auslöser des
Konflikts.« Natürlich wolle man eine friedliche Lösung, sagt er. Auf die Frage, wie groß die Gefahr
eines neuerlichen Krieges angesichts der militärischen Aufrüstung Aserbaidshans sei, räumt
Sahakjan jedoch ein: »Man kann militärische Operationen nicht ausschließen.«
Auch für den Präsidialassistenten David Babajan kommt ein Anschluss an Aserbaidshan nicht in
Frage: »Die Wasserressourcen Karabachs sind für Armenien essenziell. Die Aserbaidshaner
könnten das Wasser doch beispielsweise mit radioaktivem Abfall verunreinigen«, beschwört er ein
apokalyptisches Szenario herauf. Dass Aserbaidshan weiterhin Anspruch auf Bergkarabach erhebt,
versteht Babajan durchaus: »Aserbaidshan ist ein künstlicher Staat. In mehreren Grenzregionen gibt
es Ethnien, die bei einem Verzicht auf Karabach ihrerseits Unabhängigkeit fordern und damit
Aserbai-dshans Einheit schwächen würden«, meint er.
Da erscheint die Aussage Sasuns, eines jungen, kaufmännisch tätigen Mannes in Stepanakert,
geradezu pragmatisch: »Eigentlich ist mit dem Status quo momentan allen gedient. Die Gemüter
müssen sich erst beruhigen, denn noch sind die Wunden zu frisch.« Nicht nur die Wunden in der
Landschaft, auch jene in den Herzen der Menschen sind 16 Jahre nach Kriegsbeginn noch nicht
geheilt.
* Aus: Neues Deutschland, 4. Oktober 2008
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