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Moderndes Feudalreich

Sammelband arbeitet Massenmord an Armeniern auf

Von Gerd Bedszent *

Der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkriegs wurde von der Militärführung des Osmanischen Reiches 1915 dazu benutzt, sich der armenischen Minderheit zu entledigen. Der kürzlich vom Verlag Assoziation A herausgegebenen Sammelband »Wege ohne Heimkehr« thematisiert diesen Völkermord.

Der einleitende Artikel des Schweizer Historikers Hans-Lukas Kieser liefert eine kurze Geschichte der Armenier-Verfolgungen im Osmanischen Reich. Der zunehmende Verfall des mittelalterlichen Feudalreiches im 19. Jahrhundert rief eine Kette einander ausschließender Nationalismen hervor. Durch die Machtergreifung der aggressiv-nationalistischen Jungtürken im Jahre 1908 und den im Herbst 1914 erfolgten Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf seiten Deutschlands war die Katastrophe vorprogrammiert. Die osmanische Militärführung befahl im Mai 1915 die planmäßige Deportation der armenischen Bevölkerung in die syrische Wüste. Kieser weist nach, dass etwa ein bis 1,4 Millionen Menschen dem Hunger, den Strapazen und den mit der Vertreibung einhergehenden Massakern zum Opfer fielen. Einen Grund für den Völkermord sieht Kieser in der Bereicherungssucht der türkischen Oberschicht – die Deportationen waren von einer Welle krimineller Enteignungen flankiert.

Die Mehrzahl der Beiträge des Buches sind weniger theoretische als kulturhistorische Auseinandersetzungen mit der Geschichte und Vorgeschichte des Völkermordes. 22 literarische Texte – Auszüge aus Reportagen, Autobiographien, historischen Romanen – thematisieren das Leben der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich und die Welle der Vernichtung. Die Qualität der Texte ist sehr unterschiedlich – sie reicht von Werken der Weltliteratur bis hin zu Zeugnissen Überlebender ohne jeden literarischen Anspruch.

v Besonders erwähnt sei von diesen Beiträgen die Reportage »Ein Spaziergang durch die Stadtteile Istanbuls« des armenischen Journalisten Hagop Baronyan aus dem Jahre 1880. Der Autor liefert hier eine grandiose Satire auf die sich in verschiedene soziale Schichten ausdifferenzierende armenische Bevölkerung. Interessant sind auch die Kindheitserinnerungen »Die Gärten von Silahtar« der armenischen Schriftstellerin Zabel Yesayan von 1935. Die Autorin dokumentiert darin die Reaktionen ihres familiären Umfeldes auf die in den 1890iger Jahren im Osmanischen Reich losgebrochenen armenierfeindlichen Pogrome. Der Romanauszug »Die Welt lebt. Und Van lebt« des armenischen Schriftstellers Gurgen Mahari lässt die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der armenischen Minderheit unmittelbar vor den befohlenen Massendeportationen noch einmal auferstehen.

Von den Schilderungen der zahlreichen Morde seien insbesondere die auszugsweise abgedruckten Erinnerungen der Überlebenden Palladzo Captanian und des deutschen Sanitätssoldaten Armin T. Wegner hervorgehoben, die das Grauen der Todesmärsche und das massenhafte Sterben in den Lagern ungeschminkt wiedergeben. Weiter liefert der Band einen kurzen Auszug aus dem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« von Franz Werfel. Dieser hat dem erfolgreichen Widerstand einiger armenischer Küstendörfer gegen die osmanischen Truppen ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Roman ist bis in unsere Gegenwart hinein Hassobjekt der türkischen Rechten.

Zahlreiche in das Buch eingestreuten Anmerkungen und Kommentare versuchen den Lesern die komplizierte, historische Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges nahezubringen. Das Projekt, auf dem Territorium eines seit Jahrhunderten vor sich hinmodernden Feudalreiches bürgerliche Nationalstaaten zu installieren, mündete in einer ganzen Welle von Vertreibungen und Massentötungen. Eher selten wird thematisiert, dass die armenisch-nationalistische Daschnaken-Partei bis zum Ausbruch der organisierten Greuel enger Verbündeter der herrschenden Jungtürken war.

Im abschließenden Beitrag des Bandes von Corry Guttstadt und Ragip Zarakolu wird der Völkermord von 1915 in den Kontext der Entstehung des türkischen Nationalstaates gestellt. Die Zeit vom Zusammenbruch des Osmanenreiches bis zur Gründung der heutigen Republik Türkei im Jahre 1923 war geprägt durch weitere Pogrome gegen überlebende Armenier und eine massenhafte Vertreibung der griechischen Bevölkerungsgruppe. Umgekehrt vertrieb Griechenland seine türkischsprachige Minderheit.

In der türkischen Geschichtsschreibung erscheint diese Phase als »antiimperialistischer Befreiungskrieg«. Der Krieg wurde von der Oberschicht auch deshalb geführt, um geraubtes Eigentum nicht zurückgeben und Kriegsverbrecher nicht bestrafen zu müssen. Der Gründungskongress der türkischen Nationalbewegung fand bezeichnenderweise in einer enteigneten armenischen Schule statt. Von führenden türkischen Politikern wird am Gründungsmythos ihrer Republik bis in die Gegenwart hinein festgehalten, was sich auch in Leugnung oder Relativierung des Massenmordes von 1915 äußert.

Corry Guttstadt (Hg.): Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen, Verlag Assoziation A, Hamburg 2014, 204 Seiten, 19,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 23. Februar 2015


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