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Vorsichtige Annäherung

Nach Jahren der Funkstille wollen sich Armenien und die Türkei um eine Normalisierung ihrer Beziehungen bemühen

Von Nico Sandfuchs, Ankara *

Wir sind eng verwandte Völker«, schrieb der armenischstämmige türkische Publizist Hrant Dink einmal über das Verhältnis von Türkei und Armenien, »trotzdem sind wir uns fremd.« Tatsächlich liegen die diplomatischen Beziehungen beider Staaten seit Jahren auf Eis. Die gemeinsame Grenze hält die Türkei aus Protest gegen das Engagement Armeniens in Nagorny Karabach seit 1993 geschlossen. Zusätzlich belastet der Völkermord an den Armeniern, dem von 1915 bis 1917 mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen, das zwischenstaatliche Verhältnis.

Mit der Wahl von Sersh Sarkisjan zum neuen Präsidenten Armeniens ist nun allerdings wieder Bewegung in die festgefahrenen Beziehungen gekommen. »Ich setze mich für diplomatische Beziehungen zur Türkei und für eine Öffnung der Grenze ein«, verkündete er Anfang des Monats überraschend. Seinen türkischen Amtskollegen Abdullah Gül lud er nach Eriwan ein, um sich am 6. September ein Fußballspiel der Nationalmannschaften beider Länder anzusehen. »Wir brauchen einen gemeinsamen Neuanfang«, so Sarkisjans Appell.

Für den Vorstoß dürften wirtschaftliche Erwägungen ausschlaggebend sein. Allein durch die geschlossene Grenze gehen dem kleinen Armenien offiziellen Angaben zufolge rund 500 Millionen Dollar jährlich verloren. Doch nicht nur vom Handel mit der Türkei erhoffe man sich eine Belebung der Wirtschaft. Auch der Warenaustausch mit der EU, einem wichtigen Handelspartner Armeniens, würde durch eine Grenzöffnung einfacher und kostengünstiger.

Für die türkische Öffentlichkeit kommt die armenische Offerte überraschend. In weiten Teilen der Bevölkerung wurde der Nachbar bislang vor allem als Teil einer »Verschwörung gegen die Türkei« wahrgenommen, wie es die Tageszeitung Hürriyet einmal formulierte. Durch die »Verbreitung der Völkermordlüge« solle die Türkei »herabgesetzt« werden. Trotzdem ist inzwischen auch Ankara an einer Normalisierung der Beziehungen interessiert. Erst kürzlich bestätigte Außenminister Ali Babacan Medienberichte, denen zufolge sich Vertreter der beiden Länder bereits am 8. Juli zu »geheimen Gesprächen« in Bern getroffen haben. Die Forderung nach einer Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist ein schweres Handicap für die türkische Außenpolitik, dem 100. Jahrestag des Genozids im Jahre 2015 sehen türkische Diplomaten bereits jetzt mit größter Sorge entgegen.

Obwohl beide Seiten also ein handfestes Interesse daran haben, ist ein schneller Durchbruch wohl nicht zu erwarten. Offiziell knüpft Ankara bereits seit Jahren zwei Bedingungen an eine Annäherung: Einen Verzicht Eriwans auf die Anerkennung des Völkermords sowie einen Rückzug aus Nagorny Karabach. Abstriche dürften Erdogan mit Blick auf das mächtige Militär schwer fallen. Zu einer Geste konnte er sich in der vergangenen Woche dennoch durchringen: Mit dem Präsidenten der staatlichen Geschichtskommission, Yusuf Halacoglu, enthob er einen Hardliner in der Genozidfrage seines Amtes.

* Aus: junge Welt, 30. Juli 2008


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