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Warum Russland ein starkes Armenien braucht

Kein Zweifel, Armenien ist an einem starken Russland interessiert. Offen dagegen bleibt, ob sich Russland ein starkes Armenien wünscht

Von Armen Darbinjan, Moskau *

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gelten die GUS-Staaten als Satellitenländer Russlands, die in Moskaus Machtbereich fallen. Wenn aber von einer strategischen Partnerschaft die Rede ist, dann muss Moskau das Modell der Beziehungen revidieren. Auch vor allem deshalb, da die heutige Welt eine große Auswahl an Partnerschaften anbietet, besonders im geostrategischen Bereich. Die Europäische Union und die USA machen Armenien ausdrücklich darauf aufmerksam. Es ist eindeutig, dass sie nach einer Dominanz in Armenien und im ganzen Kaukasus streben.

Als Folge entstehen alternative Modelle der Zusammenarbeit. Wozu braucht man denn alles von Grund auf neu zu beginnen, wenn die geistige Verwandtschaft zwischen Russland und Armenien auf eine langjährige positive Geschichte zurückblickt? Das heutige Armenien gilt als ein multinationaler Staat. Dabei hat jeder Armenier eine enge Beziehung zu Russland. Außer in Montenegro ist Russland nirgendwo sonst in der Welt so willkommen. Doch dieser Zustand hält sich von selbst nicht ewig. Eine strategische Partnerschaft erfordert Anstrengungen von beiden Seiten.

Es wäre ein Fehler von Russland zu glauben, Armenien könnte auf ewig zum politischen Einflussbereich gehören. Neue Generationen lassen sich immer mehr von Pragmatismus leiten, wenn sie darüber entscheiden, welche Fremdsprache sie lernen wollen. Auch Unternehmer denken bei der Auswahl der Partner an Wirksamkeit und Effizienz.

Leider läuft unsere strategische Partnerschaft öfter nur auf die Höflichkeitsbesuche von Regierungsvertretern hinaus. Diese Begegnungen sind in der Regel sehr warmherzig. Kontakte auf höchster Ebene haben wir genug. Doch es mangelt stark an aktiven Kontakten zwischen Ärzten, Lehrern und Jugendlichen. Vor ähnlichen Problemen stehen offenbar auch andere ehemalige Sowjetrepubliken.

Die erlangte Souveränität setzt nicht nur die freie Wahl voraus, sondern auch die Freiheit bei der Suche nach nützlichen politischen und wirtschaftlichen Partnern. Da Armenien an kein Land der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) angrenzt, hat es kein großes Interesse an einem gemeinsamen Zollraum mit ihnen. Auch die armenische Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) brachte dem Land keinen praktischen Nutzen. Das wird am Beispiel des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um Berg-Karabach deutlich: Armenien ist OVKS-Mitglied. Aserbaidschan ist es nicht. Trotzdem stimmt der OVKS-Staat Kasachstan bisweilen für UN-Resolutionen, die sich gegen Armenien und zugunsten Aserbaidschans auswirken. Der kollektive Sicherheitsrahmen, wie er von OVKS geboten wird, mag den asiatischen Staaten Vorteile bringen, die dem Eindringen von Extremisten aus Afghanistan und anderen Gefahren ausgesetzt sind.

Der Kaukasus lässt sich heute kaum als eine Region gemeinsamer Interessen betrachten. Mit Ausnahme des Pipeline-Projekts Baku-Ceyhan gibt es dort so gut wie keine regionale Zusammenarbeit. Während die Länder der Region auseinander streben, profilieren sich ihre Spitzenpolitiker auf dem internationalen Parkett, statt nach gemeinsamen Entwicklungskonzepten zu suchen. Unterschiedliche Ansätze und Interessenkollisionen, wie sie schon so oft von den Politikern vorgestellt wurden, enttäuschen immer wieder die Weltgemeinschaft. Armenien, Georgien und Aserbaidschan, einzeln genommen, können bei niemandem in der Welt Interesse wecken. Denn sie haben keine Transitmöglichkeiten und ihre Märkte, jeder für sich genommen, sind klein. Von daher haben die Amerikaner Recht, wenn sie sagen, dass der Kaukasus als eine politische Einheit nicht existiert. Auch Russland sendet kein Signal, dass der Südkaukasus von Bedeutung ist. Ich denke, das diese Position für Russland verlustbringend ist. Denn sie lässt die südkaukasischen Staaten zu einer Alternative driften.

Es gibt viele Ursachen, warum das politische Projekt "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" kein Erfolg wurde. Dennoch bietet die GUS eine gute Chance, die humanitäre Gemeinsamkeit unserer Länder und Völker in Anspruch zu nehmen. Ich verstehe nicht, warum in diesem Bereich so wenig getan wird. Die meisten neuen unabhängigen Staaten betrachten Russland nicht mehr als den "älteren Bruder", obwohl Russland innerhalb der GUS zweifellos eine führende Rolle zusteht.

Wir haben viel Zeit verpasst, und die neue Generation spricht größtenteils kein Russisch mehr. Es müsste verhindert werden, dass das einst große Gebiet, wo Russisch gesprochen wurde, weiter schrumpft. Wir müssten den Absolventen der Russisch-Armenischen Universität die Möglichkeit geben, ihre sprachlichen und sonst erlernten Fähigkeiten anzuwenden. Russische Großunternehmen müssten mit strategischen Geschäftsprojekten in unsere Staaten kommen. Dieser Prozess hat schon begonnen, ist aber noch unbefriedigend. Sobald die Wirtschaft beginnt, Russisch zu sprechen, entsteht der Bedarf nach qualifizierten Russisch sprechenden Fachkräften. Russisch als Fremdsprache muss den Armeniern mehr nützen als Englisch oder Französisch. Die Russisch-Armenische Universität konnte bereits vielen russischsprachigen Familien und den armenischen Intellektuellen die Wichtigkeit der russischen Hochschulbildung nachweisen. Die armenische Gemeinde in Russland verfolgt mit großem Interesse unsere Entwicklung. Die russischen Armenier schicken ihre Kinder zum Studieren an unsere Universitäten. Mit dem russischen Diplom können sie sowohl in Russland als auch in Armenien leben und arbeiten. Somit wird die russische Sprache und Kultur weiter ausgebreitet, was schließlich zu einer Zunahme des russischen Einflusses führt.

Die pompösen Projekte wie das Armenien-Jahr in Russland oder das Russland-Jahr in Armenien müssten meines Erachtens dem Ziel dienen, eine dauerhafte kulturelle, humanitäre und wissenschaftliche Zusammenarbeit in die Wege zu leiten. Armenische und russische Wirtschaftler, Soziologen und Physiker arbeiten schon seit langem nicht mehr zusammen. Beide Staaten wissen nichts über die Leistungen voneinander. Ohne das gibt es keine Entwicklung.

In Russland spricht man heute von einem "wettbewerbsfähigen Land" und einer "wettbewerbsfähigen Gesellschaft". Was sollte man tun, um den Wettbewerb zu gewinnen? Aserbaidschan hat ein starkes Argument: Erdöl. Armenien hingegen muss auf intellektuelle Entwicklung setzen. Die junge Generation braucht eine gute Ausbildung und Aufklärung. Die russische Bildung könnte dabei helfen.

Ich bin überzeugt: Russland braucht ein starkes Armenien. Ein Armenien, das sowohl für bilaterale Beziehungen viel tun kann, als auch in der Region von Gewicht ist.

* Armen Darbinjan ist Rektor der Russisch-Armenischen Universität und Mitglied des Expertenrates von RIA Novosti

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 9. Oktober 2006;
http://de.rian.ru



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