Das Eismeer lockt
Die Ressourcen der Arktis werden mit dem Klimawandel nicht nur für die Anrainerstaaten zunehmend interessanter. Statt mit Rußland bei der Erschließung der Region zu kooperieren, sehen USA und EU Moskau als Gegner
Von Egbert Lemcke *
Schon bis zum Jahr 2040 kann aufgrund der globalen Erwärmung ein
bedeutender Teil des Nördlichen Eismeers eisfrei sein. Dies würde die
Erschließung der dort lagernden Naturreichtümer (Erdöl, Erdgas, evtl.
Kohle, Gold, Diamanten) und deren Transport wesentlich erleichtern.
Prognosen gehen zudem davon aus, daß die Nordostpassage bis zum Jahre
2050 an etwa 100 Tagen eisfrei sein wird - heute sind es ungefähr 20.
Die Arktis rückt damit in den Brennpunkt strategischer Interessen, und
die Frage der Gebietsansprüche außerhalb der Hoheitsgewässer der
Anrainerstaaten gewinnt an Brisanz. So unterschiedlich die
geographischen und sozioökonomischen Ausgangslagen der Prätendenten, so
verschieden sind auch deren Handlungsansätze. Eine Berichtigung der
ohnehin relativen Grenzen im Norden des Planeten zeichnet sich ab.
Initiiert wird diese Revision insbesondere von Kanada, Japan,
Deutschland, den USA und China; Indien, Brasilien und Südkorea,
überhaupt aufstrebende Nationalökonomien, könnten diesen Kreis erweitern.
Bekanntlich darf sich entsprechend der UN-Seerechtskonvention von 1982
die ökonomische Zone eines Staates ab einer Grundlinie auf bis zu 200
Seemeilen (370 Kilometer) erstrecken (siehe jW-Thema vom 6.2.2007). Doch
damit nicht genug: Diese Grenze kann am Meeresboden um weitere 150
Seemeilen ausgeweitet werden, sofern belegt wird, daß der
Kontinentalschelf eine geologische Fortsetzung des dem Staat zugehörigen
Landmassivs ist. 2001 beantragte Rußland als erste Nation eine solche
Feststellung, die von der UN-Kommission jedoch aufgrund »unzureichender
Beweise« abgewiesen wurde. Würde ein solcher Beweis erbracht werden,
könnte Rußland auf weitere 1,2 Millionen Quadratkilometer (etwa 45
Prozent der Gesamtfläche des Nördlichen Eismeers) Anspruch erheben.
Unmittelbare Arktisanrainer sind Rußland, Kanada, die USA, Norwegen,
Island und Dänemark (Grönland). Schweden und Finnland sehen sich,
wenngleich ohne direkten Zugang zum Nördlichen Eismeer, ebenfalls als
Mitglieder des »arktischen Clubs«. Rußland geht wie zuvor die
Sowjetunion von einem sektoralen Teilungsprinzip der Arktis aus, wonach
die an den östlichen und westlichen Landesgrenzen der Anrainerstaaten
gelegenen Längengraden die jeweiligen arktischen Sektorengrenzen bis zum
Nordpol bilden. Norwegen indes vertritt die Position, daß eine Teilung
der arktischen Region nach dem Mittellinienprinzip, beginnend ab einer
Grundlinie zwischen Nowaja Semlja und Franz-Joseph-Land einerseits und
Spitzbergen andererseits, erfolgen müßte. Im Ergebnis dieses
Dauerstreits ergibt sich eine Fläche von 155000 Quadratkilometern, die
Norwegen als »graue Zone« bezeichnet und Rußland nicht einfach aufgeben
wird. Die sektorale Teilung ist auch unvorteilhaft für die USA. Diese
könnten dadurch lediglich zehn Prozent der Arktis beanspruchen. Aus
ihrer Sicht wären direkte Abkommen mit jenen Staaten ideal, auf deren
Schelf sich für sie interessante Lagerstätten befinden. Die USA werden
allein aus diesem Grund keine Erschließung des arktischen Schelfs auf
Basis internationaler Abkommen fördern. Kanada und Dänemark melden
ihrerseits eigene Nutzungsansprüche an.
Anspruch auf eine Beteiligung an Erschließungsarbeiten des arktischen
Schelfs haben indes über 20 Staaten erhoben. Ihre Ambitionen, sich eine
Position in der bisher sehr wenig erforschten Arktis zu sichern, äußern
sich zumeist in der Ausrichtung und Beteiligung an
Forschungsexpeditionen verschiedenster Art.
Westliche Rivalitäten
Die Bildung von Koalitionen einzelner Staaten bezüglich der rechtlichen
Regelung von Ansprüchen in der Arktis erscheint zwar punktuell möglich.
So ist eine Allianz zwischen Rußland und Dänemark denkbar. Falls der
Lomonossow-Rücken als geologische Fortsetzung sowohl Grönlands
(Dänemark) als auch des sibirischen Kontinentalschelfs anerkannt wird,
könnten sich Kopenhagen und Moskau zu günstigen Bedingungen einigen. Die
USA sind ebenso bemüht, Norwegen an sich zu binden. Territorialstreits
zwischen Dänemark und Kanada um die kleine, in der Narresstraße gelegene
Felseninsel Hans währen bereits Jahrzehnte. Dabei ist die Insel an sich
bedeutungslos, doch wer Hans kontrolliert, kontrolliert auch die
Nordwestpassage. Kanada möchte diese deshalb als nationales
Hoheitsgewässer anerkannt wissen. Ein solches Bestreben liegt wiederum
nicht im Interesse der USA, die diese Passage als internationale
Gewässer sehen möchten. Gegenseitige Zugeständnisse erscheinen hier
jedoch leicht möglich. Denn im »Kampf um die Arktis« sind Kanada und die
USA »natürliche« Verbündete.
Bisher zeichnet sich nur eines ab: Sowohl Norwegen als auch Dänemark,
Kanada und die USA stehen in einer Front gegenüber den Ansprüchen
Rußlands. Dabei geht es um mehr als nur ökonomische Zugriffsrechte.
Zudem konzentrieren die USA etwa seit Ende der 90er Jahre ihre
Anstrengungen auf eine allmähliche Einschränkung der Möglichkeiten aller
übrigen Konkurrenten in der Arktis. Dies geschah fast unmerklich durch
Schaffung eines ersten Positionsraums des US-amerikanischen
Raketenabwehrsystems auf Alaska sowie von Funkmeßstationen auf Grönland
und in Großbritannien. In diesem Kontext sehen einige Experten ebenfalls
die gemeinsame Nutzung eines Zentrums für Satellitenverbindungen in
Longier auf Spitzbergen durch die USA und Norwegen. Bereits heute sind
in Alaska insgesamt 24000 US-Militärs und einige Einrichtungen der Coast
Guard verteilt. Die Eisbrecherflotte, bisher lediglich drei Schiffe,
liegt in Seattle. Zum Jahresbeginn 2008 erging eine Ausschreibung des
Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA, Behörde des Pentagons,
die mit einem Budget von 3,2 Milliarden US-Dollar Forschungsprojekte für
die Streitkräfte durchführt) über die Schaffung von Technologien, die
den USA eine militärische Überlegenheit in den polaren Regionen
absichern soll. Eine Intensivierung von Kooperationen ozeanologischer
Forschungen mit dem Woods Hole Oceanographic Institution liefert einen
passenden »zivilen« Mantel.
Diese relativ späte Reaktion legt die Vermutung nahe, daß auch die USA
den Stellenwert der sich klimatisch verändernden Arktis in ihrer
strategischen Planung lange unterschätzt hatten. Ein rechtliches Dilemma
der Vereinigten Staaten besteht zudem darin, daß sie eigentlich, wie
Rußland bereits im Jahre 2001, ihren Anspruch auf eine 600 Seemeilen
breite Küstenzone vor Alaska bei der UNO erheben könnten. Ohne den
Beitritt zur UN-Seerechtskonvention von 1982 ist dieser Rechtsweg jedoch
versperrt.
Rußlands Interessen
Unter dem Titel Ȇber den Schutz der nationalen Interessen in der
Arktis« tagte am 17. September 2008 im Kreml der Sicherheitsrat der
Russischen Föderation. In dessen Ergebnis wurden die »Grundlagen der
staatlichen Politik der Russischen Föderation in der Arktis für den
Zeitraum bis 2020 und die weitere Perspektive« gebilligt. Gleichfalls
angenommen wurde ein Maßnahmeplan zu deren Realisierung. Stellenwert und
Tragweite dieser Dokumente sind schwer zu überschätzen, geht es doch,
wie Präsident Dmitri Medwedew betonte, um die im direkten Sinne
strategische Bedeutung dieser Region für Rußland.
Letzteres gilt in mehrfacher Hinsicht. Etwa 20 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts bzw. 22 Prozent des gesamtrussischen Exports
werden in der Arktisregion erzeugt. Dort werden seltene und Edelmetalle
gewonnen. Der arktische Schelf Rußlands birgt nach Schätzungen etwa ein
Viertel der Kohlenwasserstoffressourcen der weltweiten Schelfgebiete.
Ihre Erschließung in der Arktis gewährt Rußland generelle
Energiesicherheit. Nicht zuletzt werden aus den arktischen Beständen
zirka 15 Prozent des Gesamtumfangs an Fischereiprodukten gesichert. Ein
weiterer Vorzug der arktischen Zone ist das transkontinentale System der
Nordostpassage, wodurch die europäischen und fernöstlichen See- und
Flußverkehrsverbindungen vereint werden können.
Einer effektiven Nutzung dieser Potenzen als Rußlands Ressourcenbasis
für das 21. Jahrhundert stehen bislang vor allem eine mangelhaft
entwickelte wirtschaftliche Infrastruktur und ungelöste soziale Probleme
entgegen. Für viele spezielle Einzelfragen wird noch ein Ausweg gesucht.
Auf der Tagesordnung steht die Schaffung der dazu nötigen Rechtsbasis.
Ein eher landesinternes Problem ist dabei die noch ausstehende Annahme
eines föderalen Gesetzes über die Südgrenze der arktischen Zone
Rußlands. Es geht um die Festlegung des Verlaufs entlang einer
Staatsgrenze von 20000 Kilometer in einer Region, die nach Aussagen des
Sekretärs des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew 18 Prozent des
Landesterritoriums umfassen. Von außenpolitisch höchster Brisanz ist die
Schaffung eines Vertragswerks über die rechtliche Festigung und
Ausgestaltung der Außengrenzen des Kontinentalschelfs.
Der besagten Tagung des Sicherheitsrates ging am 12. September 2008 eine
auswärtige Beratung auf Franz-Joseph-Land voraus. Erstmals in der
Geschichte des Sicherheitsrates fand eine derartige Veranstaltung
jenseits des Polarkreises auf dieser nördlichsten russischen Inselgruppe
statt. Dies allein illustriert den dauerhaften Präsenzanspruch Rußlands
in der Arktis. Bereits im Protokoll der Tagung der Mitglieder des
Marinekollegiums vom 18. April 2008 wurde u. a. fixiert, daß der
Regierung der Russischen Föderation bis zum 1. Januar 2010 konkrete
Angaben über Koordinatenpunkte der Außengrenze der exklusiven
Wirtschaftszone und des Kontinentalschelfs vorzulegen sind. Noch im
Dezember 2008 sollte durch das Marinekollegium eine Bewertung der sich
für Rußland aus der Erfüllung des Artikels 76 (Festlandsockel) der
UN-Seerechtskonvention ergebenden Konsequenzen erfolgen. Für weitere
Arbeiten zur Begründung der Außengrenzen des Kontinentalschelfs der
Russischen Föderation wurden dem Verteidigungsministerium im Rahmen des
Programms »Weltozean« für den Zeitraum 2009/2010 zusätzliche finanzielle
Mittel von mindestens einer Milliarde Rubel (gut 25 Millionen Euro)
bewilligt.
Doch gehen auch russische Seerechtsexperten davon aus, daß trotz eines
bis 2012 erneut gestellten Antrags die russischen Ansprüche auf einen
zusätzlichen Teil des Meeresbodens keine Chance auf Anerkennung durch
die UNO haben, weil andere Anrainerstaaten dem russischen Antrag
widersprechen werden. Denn das Rechtsreglement sieht vor, daß vor einem
Antrag auf Erweiterung des eigenen Schelfs mögliche Streitigkeiten mit
anderen Anspruchsländern auszuräumen sind.
In Rußland wächst die Einsicht, daß der Ausgang dieses Verfahrens
letztlich davon abhängen wird, ob es dem Land gelingt, das eigene
maritime Potential in der Arktis in all seinen Facetten zu entfalten. So
heißt es in der gültigen Marinedoktrin der Russischen Föderation für den
Zeitraum bis 2020: »Die nationale Marinepolitik in der arktischen
Regionalrichtung1 wird durch die besondere Bedeutung des freien Zugangs
der russischen Flotte zum Atlantik, durch die Reichtümer der exklusiven
Wirtschaftszone und des Kontinentalschelfs der Russischen Föderation,
durch die entscheidende Rolle der Nordflotte für die Verteidigung des
Staates in Meeres- und Ozeanrichtung sowie durch die erhöhte Bedeutung
der Nordostpassage für die stabile Entwicklung der Russischen Föderation
bestimmt.«
Die Kontrolle über ein Seegebiet wird durch zwei Faktoren definiert:
militärische Macht und geographische Nähe. Rußland verfügt über beides.
Ab diesem Sommer nahm die Seekriegsflotte Rußlands mit Einheiten der
Nordflotte ihre Einsatzfahrten in den arktischen Regionen einschließlich
des Gebiets um Spitzbergen wieder auf. Dennoch ist die Ausgangslage der
russischen Arktispräsenz in wesentlichen Teilbereichen durchaus
kritisch. Im Ergebnis von Unterfinanzierung wurde im Verlauf der letzten
17 Jahre das gesamte System der hydrometeorologischen Beobachtung im
hohen Norden aufgegeben. Das bedeutet, so beschämend es klingt:
Satelliteninformationen über die Eislage werden gegenwärtig noch von den
USA und Kanada gekauft. Ein eigenes russisches
Satelliteninformationssystems zur Sicherstellung von Navigation,
Nachrichten und Beobachtung befindet sich im beschleunigten Aufbau. Die
Inbetriebnahme von elf Küstenstationen des globalen
Satellitennavigationssystems GLONASS wird erst jetzt vorbereitet.
Ende August 2008 wurde die atomare Eisbrecherflotte Rußlands aus der
bisherigen (seit 1998) treuhänderischen Verwaltung durch die Murmansker
Seereederei in das Eigentum der staatlichen Korporation für Atomenergie
»Rosatom« überführt. Im März 2008 gelangte der staatliche Betrieb
»Atomflot«, der wirtschaftliche Betreiber der Eisbrecherflotte,
ebenfalls in die Verwaltung von »Rosatom«. Somit entsteht erst jetzt ein
einheitlicher Verkehrstechnologiekomplex mit einem breiten
Aufgabenspektrum für den Einsatz der russischen Eisbrecherflotte im
Interesse der sozioökonomischen Entwicklung des hohen Nordens, Sibiriens
und des Fernen Ostens. Haupteinsatzort ist die Arktis mit der als
»nationale Transportmagistrale« bezeichneten Nordostpassage. Gegenwärtig
befinden sich sieben Atomeisbrecher im Einsatz. Nach den Worten des
Chefs von »Rosatom«, Sergej Kirijenko, soll ab kommendem Jahr ein
Eisbrecher neuer Generation entwickelt werden. Dies erscheint angesichts
der bereits mehrmals verlängerten Einsatzdauer der vorhandenen Flotte
und der bis 2015 prognostizierten Steigerung der Frachtströme um das
Achtfache (von gegenwärtig 1,7 Millionen auf bis zu 15 Millionen Tonnen)
höchst dringlich. Als Minimum für eine zuverlässige Sicherstellung der
Nordostpassage werden sechs Atom- und weitere vier dieselgetriebene
Eisbrecher angesehen. Allein bis 2010 wird zudem der Bau von sieben
Tankern und 18 Frachtschiffen (jeweils mit Eisklasse) erforderlich.
Zusätzliche staatliche Mittel für Modernisierung, Reparatur und
Unterhalt der Flotte einschließlich einer im Oktober erfolgten
Einkommenssteigerung von 30 Prozent für das fahrende Personal wurden
bereitgestellt. Rußlands Ressourcenkonzentration im Sinne der eigenen
nationalen Interessen gewinnt an Kontur.
EU sieht sich im Hintertreffen ...
Eine Studie der Berliner Bundesakademie für Sicherheitspolitik vom Juni
2008 bemüht zur Thematik der »Energiesicherheit 2050« das geopolitische
Bild einer »strategischen Ellipse«. Die Länder im Bereich dieser Ellipse
(siehe Abbildung) stellen danach den Hauptversorgungsraum für fossile
Energieträger für die meisten EU-Staaten dar und umfassen 71 Prozent der
weltweiten Öl- und 69 Prozent der Gasreserven. Während den
Fördergebieten im Norden dieser Ellipse (Zentralrußland) noch eine
ausreichende Stabilität und grundsätzliche Versorgungssicherheit
zugesprochen wird, reduziert sich diese nach Süden hin drastisch. Als
Worst-Case-Szenario gilt aus Sicht der Studie eine chinesisch-russische
Energieallianz (»Bär und Drachen«). China würde erhebliche Teile seines
Energiebedarfs aus Rußland decken, womit russische Energierohstoffe dem
»Weltmarkt«, sprich Westeuropa und USA, entzogen werden. Damit erscheint
nicht nur das »deutsche Engagement« am Horn von Afrika, dem südlichen
Rand dieser Ellipse, in deutlichem Licht. Da sich die EU nicht von einem
Rohstoffanbieter, hauptsächlich von Rußland, abhängig machen und ihren
Bedarf aus möglichst unterschiedlichen Quellen decken will, erhält eine
zunehmend offensive Arktispolitik der EU ihre Begründung.
Vom 20. November datiert ein Strategiepapier der EU-Kommission unter dem
Titel »Die europäische Union und die Arktis«. Im Kern werden drei
Hauptziele formuliert: Schutz und Erhalt der Arktis im Einvernehmen mit
der einheimischen Bevölkerung; Förderung einer nachhaltigen
Ressourcennutzung; Beitrag zu einer besseren multilateralen Governance
der Arktis.
Es besteht der Anspruch, die EU-Arktis-Politik in einen
Koordinierungsrahmen aller EU-Politikbereiche mit maritimer Dimension zu
integrieren. Unter der hehren Flagge von Umweltschutz,
wissenschaftlicher Forschung und aus Sorge um die Lebensbedingungen der
indigenen Völker der Arktis will sich die EU einen strategischen
Ressourcenzugriff auf den hohen Norden sichern. Um diesen Weg durch die
Hintertür zu ebnen und den Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie
zumindest verbal zu überbrücken, leistete die Entschließung des
Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 2008 zur Politik für den
arktischen Raum wesentliche Vorarbeit. Neben der Forderung nach einem
Beobachterstatus im Arktischen Rat zeigt man sich in diesem Dokument
unter Punkt 13 »besonders besorgt über das anhaltende Wettrennen um die
natürlichen Ressourcen in der Arktis, das zu Bedrohungen der Sicherheit
für die Europäische Union und zu internationaler Instabilität führen kann«.
... könnte aber auch kooperieren
Dabei zeichnen sich durchaus auch für die EU und Deutschland Potentiale
ab, sich nicht wie durch die Hintertür unter ökologischer Flagge in die
Arktis einzuschleichen: Es besteht nämlich z.B. über die russischen
Wadan-Werften in Wismar und Rostock die reale Aussicht, sich, anknüpfend
an frühere Traditionen, auf den Bau von Spezialschiffen mit Eisklasse
und Anlagen für Öl- und Gasförderprojekte zu konzentrieren. In Aussicht
steht der Bau von Eisbrechern, Arktisrettungsschiffen und einem
hydrographischen Forschungsschiff. Gerade die Entwicklung hochkomplexer
und technologieintensiver Meerestechnik stellt für Rußland nach wie vor
ein Problem, für Deutschland und Westeuropa objektiv aber die Chance
dar, der vielzitierten strategischen Partnerschaft mit Rußland
praktischen Gehalt zu verleihen. Die Nordostpassage kann zudem für den
europäischen und speziell deutschen Ostasienhandel zu einer Lebensader
werden. Bereits laufende Kooperationen mit Rußland bei der erneuten
Erschließung der Nordostpassage können die Bindungen zwischen Moskau und
Berlin vertiefen. Während eine traditionelle Seeverbindung
Rotterdam-Tokio durch den Suezkanal zirka 21000 Kilometer lang ist,
reduziert sich diese Entfernung über die Nordostpassage auf 14100
Kilometer. Europäische Reeder begeben sich dabei auf einen Kurs über
6500 Kilometer entlang der Nordküsten Europas und Rußlands durch das
Weiße Meer bis zur Beringstraße. Für eine Dauernutzung dieser Route wird
ein zuverlässiges »Eisvorhersagesystem« benötigt. Die dazu
erforderlichen Daten sollen durch den von der europäischen
Weltraumorganisation ESA gebauten Klimasatelliten CryoSat-2 gelöst
werden. Kurz, das objektive Potential für eine fruchtbare Zusammenarbeit
im Interesse aller an der Erschließung der Arktis Beteiligten ist
eigentlich gigantisch.
Das Eis der Arktis spiegelt und fokussiert die Kernprobleme der
europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur. Zwischen Vancouver und
Wladiwostok liegt Helsinki und dazwischen mit Eurasien und Nordamerika
die gesamte nördliche Hemisphäre unseres Planeten. Sprechen wir über die
Arktis, geht es um nicht weniger als gleiche, klare und verbindliche
Regeln für diesen gemeinsamen Sicherheits- und Lebensraum. Der objektive
Problemdruck - forciert durch die globale Krise - schreit nach einer
neuen Sicherheitsarchitektur im Sinne von »Helsinki II«.
Wird es Europa und Deutschland gelingen, die ideologische Zwangsjacke
von EU- bzw. NATO-Blockdenken und implantierter Russophobie abzulegen?
Solange der westliche Konsens darin besteht, Rußlands Forderungen nach
einer »gleichen und ungeteilten Sicherheit für alle Staaten«, also die
Erfüllung der Hauptbestimmung der OSZE (Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa), abzulehnen, besteht dazu wenig Hoffnung. So
geschehen am 5. Dezember 2008 beim OSZE-Ratstreffen von über 50
Außenministern in Helsinki. Die 90er Jahre sind vorbei. Rußland verfolgt
- nicht nur in der Arktis - eine zunehmend souveräne Außenpolitik. Kann
Europa dies als Chance erkennen? Wem nützt ein europäisches Lavieren
unter fremder Flagge mit Doppelstandards nach innen und außen? Europa
ist eine kulturgeschichtlich reiche, aber stark zerklüftete Halbinsel im
Westen des asiatischen Landmassivs. Ein Blick auf den Globus kann
helfen, seine natürlichen strategischen Partner zu erkennen. Den Bürgern
Eurasiens und den Bären der Arktis ist es zu wünschen.
[1] Die russische Marinepolitik entwickelt für den atlantischen,
arktischen, pazifischen, kaspischen und indischen Meeresraum
Handlungsansätze (Richtungen) ökonomischer und militärischer Art
* Egbert Lemcke, Korvettenkapitän a. D. der NVA, ist Mitglied der
Dresdener Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik
Aus: junge Welt, 31. Dezember 2008
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