Eiskalte Versuchung
Gewaltige Rohstoffvorkommen in der Arktis wecken Begehrlichkeiten der Anrainer und ihrer Konzerne
Von Oliver Matz *
Die Arktis mit ihren enormen Vorkommen an Rohstoffen sorgt für Spannungen zwischen den
Anrainerstaaten Russland, Kanada, Dänemark (via Grönland), Norwegen und den USA. Während
Dänemark und Norwegen nicht über die Machtmittel verfügen, um ihre Ansprüche ernsthaft zu
verteidigen, scheinen die Gegensätze zwischen den USA, Kanada und Russland durchaus geeignet
zu sein, im Ernstfall sogar einen militärischen Konflikt auszulösen. Geschätzte 90 Milliarden Barrel
an Erdöl und 500 Billionen Kubikmeter Erdgas warten auf den, der seine Interessen durchzusetzen
vermag.
Seit Jahrhunderten versuchten verschiedene Nationen, den Nordpol in Besitz zu nehmen. Aber erst
in den letzten 200 Jahren waren die Voraussetzungen gegeben, um Träume von der Beherrschung
der Arktis wahr werden zu lassen.
Das zaristische Russland und Großbritannien übernahmen die Initiative, als sie Sektoren innerhalb
der Arktis definierten und sie für sich in Besitz nahmen. Die Britisch-Russische Konvention von 1825
legte die Grenzen zwischen den britischen Besitztümern in Kanada und den russischen Provinzen in
Alaska fest. Diese Grenze orientierte sich geografisch am 141. Meridian (Längenkreis).
1867 erwarben die USA Alaska vom Kreml, womit ein weiterer Konkurrent in der Arktis auftauchte.
Als weitere Staaten Gebietsansprüche geltend machten, wurde es unvermeidbar, eine Basis für
entsprechende Territorialforderungen zu schaffen. Auf der Berliner Kongo-Konferenz im Jahre 1884
wurde der Grundsatz festgeschrieben, dass das Recht auf Erwerb einer Kolonie nur der haben
sollte, der sie tatsächlich in Besitz genommen hat (Prinzip der Effektivität).
Wie weit reicht der Festlandssockel?
Zwei Weltkriege lenkten die Aufmerksamkeit der Welt vorübergehend auf andere Regionen, so dass
erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder Spannungen um die Kontrolle der Arktis
entstanden. Nun standen sich zwei Anrainerstaaten der Polarregion als verfeindete Supermächte
gegenüber – die USA und die Sowjetunion, getrennt durch die Beringsee. Die geografische Nähe
der jeweils anderen Großmacht bedeutete eine ernsthafte strategische Bedrohung. Um einem von
beiden Seiten gefürchteten atomaren Erstschlag zu begegnen, wurden radargestützte
Frühwarnsysteme entlang der Grenze installiert.
Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war Russland bis Ende der 90er Jahre mit
innenpolitischen Problemen beschäftigt. Mit der Amtsübernahme Präsident Wladimir Putins im Jahr
2000 begann die außenpolitische Konsolidierung Russlands. Dieses Erstarken führte auch zur
Erneuerung russischer Ansprüche auf arktische Gebiete.
Russland begründet diese Ansprüche auf die Reichtümer des Nordpols völkerrechtlich mit der im
Jahr 1982 verabschiedeten UN-Seerechtskonvention. Laut diesem von mehr als 150 Staaten
ratifizierten Abkommen können die Staaten vor ihrer Küste eine Wirtschaftszone beanspruchen, die
bis zu 200 Seemeilen (370 Kilometer) breit ist. In diesem Gebiet bestimmt der jeweilige Staat auch
über die Ausbeutung von Rohstoffen im Meeresboden. Diese Zone kann erweitert werden, wenn der
Kontinentschelf über die 200-Seemeilen-Grenze ins Meer ragt. Russische Geologen bemühen sich
daher zu beweisen, dass der Lomonossow- und der Mendelejew-Rücken – unter Wasser gelegene
Gebirgszüge – Ausläufer des Eurasischen Kontinents sind. Allerdings suchen auch dänische
Wissenschaftler nach einer Verbindung zur grönländischen Landmasse. Wenn sie eine solche
finden, könnte auch Dänemark Anspruch auf den Lomonossow-Rücken erheben.
Die Rechtmäßigkeit derart begründeter Gebietsansprüche prüft die Sockelkommission der Vereinten
Nationen in New York. Sie kann aber nur über die Ausweitung der Wirtschaftszone in internationales
Gewässer entscheiden. Für Grenzstreitigkeiten zwischen Nachbarstaaten ist die Kommission nicht
zuständig. Diese Zwistigkeiten müssen zwischen den beteiligten Nationen selbst behandelt werden.
Bereits im Jahr 2001 hatte Russland versucht, seine Ansprüche auf die Rohstoffvorkommen am
Nordpol vor den Vereinten Nationen durchzusetzen. Der Versuch scheiterte aber am Mangel an
Beweisen. Noch in diesem Jahr sollen geologische Forschungen abgeschlossen sein, die die
russischen Ansprüche belegen. Für den Fall eines neuerlichen Fehlschlags seiner Bemühungen hat
Moskau bereits mit dem Austritt aus der UN-Seerechtskonvention gedroht.
Nach Expertenmeinung ist ein Scheitern der russischen Forderungen aber nicht zu erwarten, da
Russlands neue Proben erheblich überzeugender sind als die 2001 präsentierten.
Die Flagge im Boden unterm Nordpol
Die USA dagegen können juristisch derzeit keine Polargebiete beanspruchen, da sie die 1982
geschlossene UN-Seerechtskonvention nicht unterzeichnet haben. Dennoch bereitet Washington
eine Territorialforderung vor. Die Regierung Obama beabsichtigt in diesem Kontext einen Beitritt zur
UN-Seerechtskonvention. Allerdings wird es nicht so einfach sein, dieses Vorhaben im Kongress
durchzusetzen. Dort haben die Republikaner eine Mehrheit und verzögern ihre Zustimmung. Die
konservativen Abgeordneten argumentieren, der Beitritt zu dem Abkommen habe zur Folge, dass
die USA Souveränitätsrechte an internationale Institutionen wie die UNO übertragen, was sich zum
Nachteil für die Vereinigten Staaten auswirken werde.
Die Entschlossenheit beider Nationen, ihre Interessen in der Arktis wahrzunehmen, wird sowohl
durch symbolische Akte als auch durch militärische Manöver unterstrichen. Russische Forscher, die
mit zwei Miniunterseebooten den Boden am Nordpol untersuchten, setzten dort, 4300 Meter unter
der Meeresoberfläche, im August 2007 eine russische Flagge ab. Auch die 20-Stunden-
Patrouillenflüge russischer Langstreckenbomber und die Wiederaufstellung von Marineverbänden in
der Arktis demonstrieren die Entschiedenheit, mit der die russischen Führung ihre Ansprüche vertritt.
Im Juni 2008 hatte Russlands Militär mit der Ausarbeitung möglicher Kriegspläne für die Arktis
begonnen. Im März 2010 bekräftigte Präsident Dmitri Medwedjew, sein Land wolle seinen Anspruch
auf die Rohstoffvorkommen in der Arktis verteidigen. Andere Staaten hätten »aktive Schritte
unternommen«, um ihre wirtschaftliche und militärische Präsenz in der Region zu verstärken.
Außerdem gebe es bereits Versuche, den Zugang Russlands einzuschränken. Das sei angesichts
der geografischen Lage seines Landes unfair und aus juristischer Sicht »absolut unzulässig«.
Auch die USA zeigen sich entschlossen, ihre Ansprüche zu verteidigen. US-Seestreitkräfte haben
beispielsweise im Juni 2009 eine große Militärübung unter Beteiligung von Flugzeugträgern in der
Arktis abgehalten. Das Operationsgebiet grenzte an russische Hoheitsgewässer.
Doch nicht nur zwischen den USA und Russland bestehen Interessenkonflikte. Auch Kanada
verfolgt Ziele, die mit denen der USA nicht kompatibel sind.
Mit zunehmender Erderwärmung taut das Eis an den Polen. Im Jahr 2007 war die
Nordwestpassage, die etwa 5780 Kilometer lange Seestraße, die nördlich des amerikanischen
Kontinents den Atlantischen mit dem Pazifischen Ozean verbindet, erstmalig eisfrei. Klimaforscher
vermuten, dass ab 2013 eisfreie Sommer zu erwarten sind. Dadurch entstünde eine Schiffsroute, die
den Weg zwischen Europa nach Asien erheblich verkürzt. Während die Route durch den Suezkanal
gut 21 000 Kilometer und die durch den Panamakanal gar 23 000 Kilometer lang ist, wären es durch
die Nordwestpassage nur noch 16 000 Kilometer. Ein weiterer Vorteil der Nordwestpassage ist, dass
Regionen gemieden werden, die von Piraterie bedroht sind, etwa die Gewässer rund um Indonesien.
Streit um die Nordwestpassage
Die territoriale Zugehörigkeit des Seeweges ist jedoch zwischen Kanada und den USA umstritten.
Bereits 1973 erklärte Kanada die Nordwestpassage zur nationalen Wasserstraße. Seither ist sie ein
Symbol der nationalen Souveränität des Landes. Die USA sind aber nicht bereit, die Ansprüche des
nördlichen Nachbarn zu akzeptieren. Am 25. Januar 2006 erklärte der US-Botschafter in Kanada,
David Wilkins, an der Universität von Western Ontario, die USA würden Kanadas Ansprüche auf die
Wasserstraße nicht anerkennen. Sie betrachten die Nordwestpassage als internationale
Wasserstraße, die allen Nationen offen steht. Also könne auch das US-Militär frei innerhalb dieser
Zone operieren, ohne sich um die kanadische Erlaubnis bemühen zu müssen.
Josh Hunter, verantwortlich für Kanadas am nördlichsten gelegene Gemeinde Inuvik, bemerkte
dagegen für den Fall einer unautorisierten Passage: »Falls die Amerikaner versuchen sollten,
unangemeldet durchzukommen, werden wir auf unseren Schneemobilen draußen sein und ihnen
den Weg blockieren.« Kanadas konservativer Premierminister Stephen Harper befahl den Bau von
sechs bis acht eisbrechenden atomgetriebenen Patrouillenschiffen. Sie sollen garantieren, dass sich
jedes Schiff, das die Nordwestpassage befährt, vorher bei der kanadischen Küstenwache registriert.
Des weiteren hat Ottawa Soldaten im Norden stationiert und ein System zur Kontrolle der
Bewegungen von U-Booten installiert.
Kanada hat gute Gründe, seine Ansprüche auf die Nordwestpassage so entschieden zu verteidigen.
Wenn das Land die Wasserstraße kontrolliert, könnte es nämlich Gebühren für die Passage
erheben, ähnlich wie Ägypten am Suezkanal. Die USA und andere Staaten haben naturgemäß kein
Interesse daran.
Es ist nicht zu erwarten, dass eine der drei Mächte ihren Rivalen freie Hand in der Arktis lässt. Zu
viel steht auf dem Spiel. Laut Schätzungen der Geologischen Behörde der USA (USGS) befinden
sich 22 Prozent der global verfügbaren Energievorkommen dort. 90 Milliarden Barrel Erdöl
beispielsweise würden ausreichen, den gesamten globalen Ölbedarf für drei Jahre zu befriedigen.
Krisenherd der Zukunft?
Die Erderwärmung lässt die Erschließung dieser gewaltigen Öl- und Gasvorkommen durch das
Schmelzen des Eises leichter werden. Hohe Ölpreise und die wachsende politische Instabilität in
den rohstoffreichen Gebieten des Mittleren Ostens, Zentralasiens und Lateinamerikas sind
zusätzliche Faktoren, die die Attraktivität der Ressourcen des Nordpols befördern. Diese
Entwicklung beschert der Welt einen neuen Krisenherd.
Die militärischen Machtdemonstrationen zusammen mit politischen Erklärungen der Protagonisten
veranschaulichen die Brisanz der Situation am Nordpol. Es bleibt zu hoffen, dass Vernunft und
Konzessionsbereitschaft die Regierungen veranlassen, politischen Kompromissen bei der Aufteilung
der Arktis zuzustimmen.
* Aus: Neues Deutschland, 3. September 2011
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