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Generalstreik gegen die Inflation

Argentiniens Gewerkschaften wollen vor Tarifverhandlungen das Land lahmlegen

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Die Gewerkschaften Argentiniens rufen für Donnerstag zum Generalstreik auf. Sie fordern deutlich höhere Löhne – als Inflationsausgleich.

Am Donnerstag geht in Argentinien nicht viel. Alle regierungskritischen Gewerkschaften haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen. Rund 40 bereits angekündigte Straßenblockaden werden dafür sorgen, dass sich auch dort nicht viel bewegt, wo der Streikaufruf nicht auf fruchtbaren Boden fallen sollte. Abgesehen von politischen Scharmützeln zwischen regierungstreuen und regierungskritischen Organisationen geht es um Lohnanpassungen wegen der galoppierenden Inflation.

»Letzte Woche war das noch 30 Centavos billiger!« Claudio Gallo deutet mit seinem Zeigefinger auf ein Regal im Supermarkt. Auf welches Produkt er genau zielt, ist nicht zu erkennen. Das ist auch nicht nötig. Wer in Argentinien regelmäßig einkaufen geht, weiß, dass Claudios Stoßseufzer jede Woche aufs Neue auf nahezu alle Produkte zutrifft. Bei immer mehr Familien reicht das Einkommen nicht mehr bis zum Monatsende.

»Precios cuidados«, geschützte Preise, lautet die Antwort der Regierung darauf. Dahinter steht der Versuch, die Verbraucherpreise durch Absprachen mit den Supermarktketten zu regulieren. 302 Produkte vor allem des täglichen Bedarfs stehen gegenwärtig auf der Liste der geschützten Preise. Im Internet kann darauf zugegriffen werden, an den Regalen der Supermärkte müssen entsprechende Hinweise angebracht werden.

Die Inflationsrate ist in Argentinien seit Jahren ein Politikum. Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde INDEC lag die Inflationsrate im vergangenen Jahr bei 10,8 Prozent. Doch diese Berechnungen nimmt außer der Regierung niemand mehr ernst, seit das INDEC im Mai 2008 nach und nach vollständig von regierungstreuen Mitarbeitern übernommen wurde.

Wer Preise kalkulieren muss, richtet sich nach der Inflationsrate, die monatlich eine Gruppe von Parlamentsabgeordneten bekannt gibt, seit die Regierung privaten Wirtschaftsforschungsinstituten Geldstrafen für die Veröffentlichung eigener Inflationsberechnungen angedroht hat. Und nach Angaben der Parlamentarier lag die Preissteigerung 2013 bei 28,3 Prozent. Demzufolge liegt Argentinien in Südamerika auf dem zweiten Rang. Dramatischer ist die Preisentwicklung nur in Venezuela. Dort wird für das vergangene Jahr eine Preissteigerungsrate von über 50 Prozent angegeben. Venezuela ist damit Weltspitze.

Einerseits widerspricht die Regierung regelmäßig den Angaben und weigerte sich noch bis vor Kurzem, überhaupt das Wort Inflation zu benutzen. Andererseits erklärte sie sich bei den Tarifverhandlungen in den vergangenen Jahren stets mit Lohnerhöhungen um die 25 Prozent einverstanden. Als die Transportarbeiter der mächtigen Einzelgewerkschaft von Hugo Moyano im Juni 2012 für einige Tage landesweit den Verkehr lahmlegten, setzten sie eine Lohnsteigerung um 25,5 Prozent durch.

Die Aussichten in Bezug auf die Preisentwicklung sind für 2014 noch trüber. Inoffizielle Berechnungen gehen von einer Preissteigerungsrate von über 30 Prozent aus. Die ersten drei Monate des Jahres bestätigen diese Voraussagen. Und während die Regierung bei den Tarifabschlüssen unbedingt unter 30 Prozent bleiben will, fordern die Gewerkschaften Abschlüsse, die über der 30-Prozent-Marke liegen.

»Das mit den geschützten Preisen ist Augenwischerei«, sagt Claudio und ist jetzt ganz der Ökonomiestudent. Die Regierung unter Cristina Fernandez de Kirchner hat immer auf den privaten Konsum als Garanten für politische Stabilität und als wirtschaftlichen Motor gesetzt. Die Inflation war nicht wichtig, da mit entsprechenden Lohnerhöhungen die Kaufkraft auf gleichem Niveau blieb. Doch der Staat musste immer immens zuschießen, ob in Form öffentlicher Preissubventionen für Transport und Energie oder als Ausgaben für die stetig gestiegene Zahl der Staatsangestellten. Inzwischen sehe man auch in der Regierung das Ende der Fahnenstange, sagt Claudio. »2014 wird hart, denn die Regierung will die Reallöhne senken, und die Gewerkschaften werden dagegenhalten.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. April 2014


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