"Die Entwicklung ist unumkehrbar"
Argentinien arbeitet Diktatur-Verbrechen auf *
Rechtsanwalt Rodolfo Yanzón von der Stiftung Argentinische Liga für Menschenrechte.
ND: Herr Yanzón, am Sonntag (30. Aug.) ist der Internationale Tag der Verschwundenen. Während der letzten Militärdiktatur 1976 bis 1983 sind in Argentinien Tausende von Menschen spurlos verschwunden.
Die Täter gingen lange straffrei aus. Kommt die juristische Aufarbeitung voran?
Wir warten auf die öffentlichen Anhörungsverhandlungen, denn ohne sie gibt es keine Urteile. Und
wir warten noch immer darauf, was in einigen Provinzen geschieht und wann die Prozesse dort ins
Laufen kommen. Das Hinauszögern der öffentlichen Anhörungsverfahren durch die Militärs und die
mit ihnen verbündeten Richter ist offensichtlich.
Die beiden Amnestiegesetze, die den Militärs für ihre Menschenrechtsverbrechen Straffreiheit
garantierten, wurden doch schon im August 2003 annulliert.
Ja und schon am 1. September 2003 beschlossen einige Bundesgerichte, die Verfahren wieder
aufzunehmen, die mit den Amnestiegesetzen 1986 und 1987 geschlossen worden waren. Nach
sechs Jahren fällt die Bilanz aber keineswegs nur positiv aus. Immerhin meldeten sich viele
Familienangehörige und Überlebende als Kläger. Das war ein wichtiger Punkt im Kampf gegen die
Straflosigkeit.
Ist es nicht auch ein Verdienst der Kirchner-Regierungen?
Schon, aber nicht in erster Linie. Die Regierung Kirchner hat aus dem Thema Kapital geschlagen.
Das ist legitim und stelle ich auch gar nicht in Frage. Aber wir dürfen nicht vergessen: Es war nicht
der Federstrich eines Präsidenten entwscheidend. Schon lange hat die starke Forderung nach einer
juristischen Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur und ein Ende der Straflosigkeit in der
argentinischen Gesellschaft existiert.
Was hat letztendlich den Ausschlag gegeben?
Die Annullierung der Amnestiegesetze ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Arbeit von
Menschenrechtsgruppen und auch der juristischen Verfolgungen der Verantwortlichen in Europa.
Néstor Kirchner hatte ein feines Gespür für diesen Umstand, als er im Mai 2003 sein Amt antrat und
es wird in den Geschichtsbüchern als sein Erfolg niedergeschrieben werden. Sollten die Kirchner-
Regierungen einmal abgelöst werden, werden die Verfahren weitergehen. Die juristische
Aufarbeitung ist nach jetzt sechs Jahren soweit vorangeschritten, dass es unmöglich ist, die
Entwicklung umzukehren.
Gegen rund 1300 Personen wird ermittelt oder sind die Gerichtsverfahren bereits eingeleitet. 400 der
Angeklagten sitzen in Untersuchungshaft.
Bis Anfang letzten Jahres herrschte große Konfusion. Wir wussten nicht, wann, ob und wie die
öffentlichen Anhörungsverfahren in zahlreichen Prozessen stattfinden werden. Und ohne öffentliche
Anhörungsverfahren gibt es kein Urteil. Das hat sich geändert. Wesentlich dazu beigetragen hat,
dass die bremsenden Richter in der Obersten Strafrechtskammer des Landes ausgetauscht wurden.
Im Februar 2009 hatte das öffentliche Anhörungsverfahren in einem der drei sogenannten
Megaprozesse begonnen. Es ist der bisher größte Prozess gegen führende Offiziere seit 1985.
Konkret geht es um die Verbrechen in den 60 geheimen Gefangenenlagern der Militärs, die sich im
Kommandobereich des Ersten Heerescorps befanden. Insgesamt werden in dem Prozess 90
Personen beschuldigt. Am 6. Oktober beginnt das Anhörungsverfahren gegen mehr als 20
Angeklagte wegen Menschenrechtsverbrechen in der Mechanikerschule der Marine ESMA, dem
größten geheimen Haft- und Folterzentrum in der Hauptstadt Buenos Aires. Und am 26. Oktober
beginnt das öffentliche Anhörungsverfahren im Fall der Verbrechen auf dem Militärgelände Campo
de Mayo in der Provinz Buenos Aires. Dabei wird auch der letzte Chef der Militärjunta, Reynaldo
Benito Bignone, auf der Anklagebank sitzen.
Fragen: Jürgen Vogt
* Aus: Neues Deutschland, 29. August 2009
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