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Verteilungskämpfe

Erster Generalstreik gegen argentinische Regierung. Beschäftigte leiden unter hoher Inflation. Regierung zeigt wenig Dialogbereitschaft

Von Johannes Schulten *

Auf der internationalen politischen Bühne ist Cristina Fernández de Kirchner gefragter denn je. Mehr als 130 palästinensische und israelische NGOs haben die argentinische Präsidentin in der vergangenen Woche aufgefordert, im Nahostkonflikt zu vermitteln. Auch Ägyptens Präsident Mohammed Mursi soll den Appell unterstützt haben. In ihrem Land dagegen scheint sie selber dringend einen Vermittler brauchen zu können. Denn gut ein Jahr, nachdem Fernández de Kirchner mit einem historischen Ergebnis von 53 Prozent der Wählerstimmen im Amt bestätigt wurde, sieht sich die Regierung mit den bisher stärksten Protesten der letzten Jahre konfrontiert. Bereits am 8. November waren Hunderttausende in zahlreichen Großstädten u. a. gegen eine geplante dritte Kandidatur der Präsidentin auf die Straße gegangen. Mehr Sorgen als die vor allem von der Mittelklasse getragenen Proteste dürfte ihr jedoch der Generalstreik vom Dienstag bereitet haben. Schließlich gehörten die Gewerkschaften bis vor kurzem noch zu den wichtigsten Bündnispartnern der Regierung. Diese Zeiten scheinen nun endgültig vorbei. Zwar beschränkten sich die Ausstände, zu denen drei der fünf großen Verbände aufgerufen hatten, maßgeblich auf die Hauptstadt Buenos Aires. Doch die Auswirkungen dort waren stärker als von vielen erwartet: Neben zahlreichen geschlossenen Krankenhäusern und Banken kam der größte Teil des öffentlichen Nahverkehrs sowie der nationale Flugverkehr zum erliegen. Für zusätzliches Chaos auf den Straßen der Hauptstadt sorgten verschiedene linke Gruppen und Arbeitslosenorganisationen, die zahlreiche Ausfallstraßen der Stadt blockierten.

Die beteiligten Gewerkschaften feierten den Streik als vollen Erfolg. Hugo Moyano vom regierungskritischen Dachverband CGT begründete die Notwendigkeit der Kampfmaßnahme mit dem seit Monaten fallenden Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung. Grund dafür ist vor allem die konstant hohe Inflation von über 20 Prozent. Um die Folgen dieser abzumildern, fordert er eine Senkung der Einkommenssteuer, die über die Anhebung des Steuerfreibetrages erreicht werden soll. Darüber hinaus wollen die Gewerkschaften eine Ausweitung des vor einigen Jahren von der Regierung eingeführte Kindergeldes sowie die Anhebung des Mindestlohns.

Fernández de Kirchner zeigte sich unbeeindruckt. »Das war kein Streik, das war ein Würgegriff, eine Bedrohung«. Und auf Drohungen werde sie nicht reagieren. Vertreter der Regierungspartei »Front für den Sieg« stellten sogar die Legitimität des Protests in Frage: »Wenn ein Streik von der Gesamtheit der Arbeiter gewollt ist, braucht es keine Straßenblockaden«, sagte der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli.

Tatsächlich ist schwer zu sagen, wie viele der Beschäftigten den Ausstand unterstützt haben. Denn die argentinische Gewerkschaftsbewegung ist heillos zerstritten. Die beiden großen Verbände, die traditionelle peronistische CGT und die in den 90er Jahren im Kampf gegen die Privatisierungen der Regierung Menem gegründete CTA, haben sich zu Beginn des Jahres jeweils in ein regierungsnahes und ein oppositionelles Lager gespalten.

Und dieses unterstützt zwar die Forderungen des Ausstandes im Kern, weigert sich jedoch, dafür zur Waffe des Generalstreiks zu greifen. »Es scheint, als würden wir in einem perfekten Land leben, wo das einzige Problem der Beschäftigten ein zu geringer Steuerfreibetrag ist«, sagte Hugo Yasky, der den regierungsnahen Teil der CTA anführt.

Doch ob die Regierung in Zeiten einer sich abzeichnenden Krise und sinkende öffentliche Einnahmen bereit sein wird, den ohnehin knappen Staatshaushalt noch weiter zu belasten, bleibt abzuwarten. Denn der Zugriff auf die internationalen Finanzmärkte, um derartige Maßnahmen zu finanzieren, ist Argentinien noch immer versagt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 27. November 2012


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