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Das Ende des Wunders?

Nach Jahren des Wachstums verzeichnet Argentinien erstmals einen Konjunkturabschwung. Die Gründe dafür liegen im Land

Von Fernando Krakowiak, Buenos Aires *

Geht das argentinische Wirtschaftswunder seinem Ende entgegen? Nach den historischen Wachstumsraten der vergangenen Jahre, zuletzt 2011 mit einem Plus von 8,9 Prozent, wies das erste Quartal 2012 lediglich einen Anstieg von 4,8 Prozent aus. Mancher Staatspräsident im stagnierenden Europa würde mehr als froh sein über solche Werte. Und auch angesichts der weltweiten Rezession fällt es schwer, von einer Krise in Argentinien zu sprechen. Gleichwohl mehren sich am Río de la Plata die Sorgen, daß der Rückgang nicht allein auf die Abkühlung der Weltwirtschaft zurückzuführen sind. Auf den Punkt brachte das kürzlich der ehemalige Wirtschaftsminister Roberto Lavagna, als er davor warnte, externe Gründe für den Konjunktureinbruch zu suchen: »Wir haben immense Probleme im Land, auf die wir eine Antwort brauchen.«

Haushalt im Minus

Das Wachstumsmodell der vergangenen Jahre basierte im wesentlichen auf zwei Säulen: einem positiven Haushalt und Überschüssen in der Handelsbilanz. Da Argentinien sich seit Jahren weigert, die Kreditbedingungen internationaler Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu akzeptieren, ist das Land weitgehend von den internationalen Geldmärkten ausgeschlossen. Positive Bilanzen sind daher essentiell, um einen Zahlungsausfall zu vermeiden. Doch in den letzten drei Jahren sind die Staatsausgaben schneller gewachsen als die Einnahmen. Der einstige Haushaltsüberschuß ist einem Minus gewichen. Laufende Ausgaben konnten nur noch mit Hilfe von Querfinanzierungen bewältigt werden. Herhalten dafür mußten Devisenbestände der Zentralbank sowie die Einlagen der vor einigen Jahren verstaatlichen Rentenversicherung. Die Handelsbilanz, also das Verhältnis von Ausfuhren zu Einfuhren, dagegen ist weiterhin positiv. Wenngleich auch ihr Überschuß in letzter Zeit schmolz, was vor allem mit dem Wertanstieg des argentinischen Peso gegenüber dem US-Dollar zu tun hat. Dieser hat zur Folge, daß sich die Exporte spürbar verteuern, während die Preise für Importe sinken. Die Nachfrage nach eingeführten Waren nimmt also zu. Verstärkt wird diese Entwicklung durch eine Exportoffensive aus den USA und Europa. Dortige Unternehmen haben wachsende Probleme, ihre Waren auf den stagnierenden Heimmärkten abzusetzen. Um die Einbußen zu kompensieren, konzentrieren sie sich zunehmend auf prosperierende Länder wie Argentinien. Zudem werden die Kassen seit kurzem durch enorme Energieengpässe belastet. So ist die Produktion von Öl und Gas in den letzten Jahren erheblich zurückgefahren worden. 2011 wurden erstmals seit 17 Jahren mehr Brennstoffe importiert als ausgeführt. Im Dezember wies die Energiebilanz ein Minus von drei Milliarden US-Dollar auf.

Die Handlungsspielräume der Regierung sind begrenzt. Ein Einwirken auf den Pesoanstieg ist praktisch nicht möglich. Bis 2007 durchgeführte jährliche Abwertungen mußten aufgrund der inzwischen auf über 20 Prozent angestiegenen Inflation beendet werden. Bleibt also nur, dem drohenden Handelsdefizit über eine Eindämmung der Importe und die Sanierung der Energiebilanz beizukommen. So wurden bereits die Einfuhrbeschränkungen verschärft. In diesem Zusammenhang muß auch die Verstaatlichung des größten Ölkonzerns des Landes YPF gesehen werden, die in den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt hat. Anfang Mai stimmte das argentinische Parlament dafür, 51 Prozent der YPF-Anteile vom Haupteigner, dem spanischen Konzern Repsol, in Staatsbesitz zu überführen. Unter öffentlicher Führung, so die Hoffnung, soll die Energieproduktion wieder anziehen.

Ein weiteres Problem, das die Zahlungsfähigkeit des Landes beeinträchtigt, ist die enorme Kapitalflucht. Allein 2011 haben Unternehmen und Privatpersonen dem Fiskus 23 Milliarden US-Dollar entzogen. Neben multinationalen Unternehmen, die Devisen horten und sie außer Landes schaffen, hat auch die Währungsspekulation zugenommen. Hinzu kommt ein generelles Mißtrauen vieler Argentinier in die eigene Währung. Wer Erspartes hat, wechselt es in Greenbacks, die im Wandschrank, Tresor oder unterm Kopfkissen aufbewahrt werden. Geld auf der Bank zu deponieren, ist eher ungewöhnlich, was bei durchschnittlichen Zinsen von zehn Prozent und einer Inflation von 20 Prozent auch nachvollziehbar ist.

Spekulation nimmt zu

Seit Oktober hat die Regierung erste Maßnahmen gegen den Devisenmangel ergriffen. Bürgern und Unternehmen ist es beispielsweise verboten, ausländische Währungen ohne vorherige Autorisierung zu erwerben: Jeder, der Peso in Valuta tauschen will, muß nun nachweisen, wo das Geld herkommt. So wurde erreicht, daß die Devisennachfrage spürbar zurückgegangen ist.

Allerdings hat im letzten Monat die Spekulation wieder zugenommen, was die Regierung veranlaßt hat, praktisch keine Dollarkäufe für den privaten Gebrauch mehr zu autorisieren. Infolge dieser Maßnahme stieg der Dollarpreis auf dem Schwarzmarkt innerhalb einer Woche von 4,90 auf 5,90 Pesos. Die Differenz zum offiziellen Kurs beträgt mehr als 30 Prozent. Inzwischen sind die Kaufbeschränkungen so strikt, daß jeder, der Fremdwährung für Reisen oder zum Erwerb von Eigentum braucht, sie sich auf dem Schwarzmarkt besorgen muß.

Vor allem im Kontext einer Konjunkturabschwächung wirkt der staatlich reglementierte Dollarmarkt wie Gift für das Wachstum. Erste Auswirkungen lassen sich bereits auf dem Wohnungsmarkt beobachten: Wie alle Luxusgüter werden Immobilien in US-Dollar bezahlt. Werden diese knapp, wirkt sich das negativ auf die Nachfrage aus. Noch problematischer ist aber, daß der hohe Schwarzmarktpreis für den Dollar langsam beginnt, die realen Konsumentenpreise zu beeinflussen. Trotzdem scheint die Regierung entschlossen, diese Kosten in Kauf zu nehmen, um eine Rückkehr zum IWF zu vermeiden. Denn die Bedingungen, an die nötigen Kredite geknüpft wären, heißen Privatisierungen, massive Kürzungen der Subventionen und eine Reform des Steuersystems.

* Der Autor ist Wirtschaftsredakteur der argentinischen Tageszeitung Página 12.

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. Juni 2012


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