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Systematischer Kinderraub

Argentinische Organisation spürt Kinder "Verschwundener" auf *


In Argentinien kämpfen die »Abuelas de la Plaza de Mayo« (Großmütter der Plaza de Mayo) um ihre Enkelkinder, die in der Gefangenschaft der Militärdiktatur (1976 bis 1983) geboren wurden. Die Vizepräsidentin der Organisation, Rosa Roisinblit, berichtet über die Methode des »Verschwindenlassens« und des Kinderraubs. Für das "Neue Deutschland" (ND) sprach Benjamin Beutler mit der Argentinierin.

ND: Heute wird der Internationale Tag der Verschwundenen begangen, um an das Schicksal von Menschen zu erinnern, die aus politischen Gründen gegen ihren Willen an einem Ort festgehalten werden, der ihren Familienangehörigen nicht bekannt ist. Was macht das »Verschwindenlassen« so perfide?

Roisinblit: Das Klima der Angst. Argentinien war immer ein unruhiges Land mit Putschen und politischer Gewalt. Dass der Staatsstreich gegen die Regierung Isabel Peróns 1976 im Staatsterrorismus enden würde, damit rechnete niemand. Auf offener Straße wurden Angehörige verhaftet, sie kamen nie wieder. Das war zuerst unfassbar.

Weil sie junge, nachdenkliche Leute waren, wurden meine Tochter und ihr Lebensgefährte entführt. Sie wollten ein besseres Land für sich und ihre Kinder. Sie schlossen sich der Montonero-Bewegung an, die gegen die Diktatur kämpfte. Beide verschwanden, meine Tochter war im achten Monat schwanger. Zurück ließ sie ihre 15 Monate alte Tochter. Die Worte »Mamá« und »Papá« waren das Einzige, was ihr von ihren Eltern blieb. Stellen Sie sich vor, was in so einem kleinen Kopf und im Herzen eines Kindes vor sich geht. Auch meine Enkelin wurde so zum Opfer der Diktatur.

Wie gehen Sicherheitskräfte beim »Verschwindenlassen« vor?

Die Spannung im Land wurde schnell sehr stark. Es gab Familien, deren schwangere Tochter entführt worden war, die still hielten und nichts sagten aus Angst, noch ein Familienmitglied würde verschwinden. Entführt wurden Arbeiter, Angestellte, Gewerkschafter, Studenten, Gymnasiasten und Kinder. Darum begannen wir davon zu reden, jemand sei »verschwunden«, der Begriff des »Verschwindens von Personen« entstand. Treffen konnte es jeden. Folter, Mord und Totschlag – die Militärs prahlten damit, als wäre es ein Triumph, gezielt sickerten Geschichten durch. So funktioniert das System aus Angst und Terror.

Im von Deutschland besetzen Frankreich des Zweiten Weltkrieges galt der so genannte »Nacht-und-Nebel-Erlass«. Das spurlose Verschwinden wurde als Mittel der Abschreckung gegen Regime-Gegner eingesetzt.

Von Nazideutschland haben Argentiniens Militärs sicher viel gelernt, Ehemaliges Nazipersonal arbeitete für die hiesigen Streitkräfte. Entführte Argentinier jüdischen Ursprungs sind Zeugenaussagen zufolge dann auch besonders brutal gefoltert worden. Ihnen schlug noch mehr Hass und Wut entgegen, nur weil sie Juden waren.

Aber auch die US-amerikanische Militärschule für lateinamerikanische Offiziere »School of the Americas« hat ihren Einfluss ausgeübt. Das Ganze hatte mit Diktator Juan Carlos Onganía in den 60er Jahren begonnen. Die neue Technik des »Verschwindenlassens« kam nicht von einem Tag auf den nächsten, sie wurde im Lauf der Militärputsche perfektioniert.

Bei uns sollte ein neues Wirtschaftssystem durchgesetzt werden, es gab großen Druck, den Neoliberalismus einzuführen: Öffnung der Märkte, weniger Industrialisierung, ein wirtschaftsliberales Modell. Am Ende wissen wir, dass die Militärs unser Land ruiniert haben.

In der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 »verschwanden« in Argentinien 30 000 Menschen. Im geheimen Folterzentrum der Militärschule ESMA sind über 500 Kinder von »Subversiven« geboren und dann Familien von Regime-Freunden übergeben worden. Anfang August wurde »Enkelin Nr. 105« ausfindig gemacht, eine heute 33 Jahre alte Frau. Wie ist das nach einem so langen Zeitraum überhaupt möglich?

Die »Abuelas de Mayo« haben eine Gendatenbank von verschwundenen Eltern aufgebaut. Bei Verdacht einer illegalen Adoption ihrer Kinder gehen wir auf die Adoptionsfamilie zu, bitten um Kooperation. Oder wir wenden uns direkt an die Justiz, die eine Blut- und Speichelprobe zwecks Abgleich erwirken kann. Auch gibt es eine Hotline und Fernsehspots für jene, die Zweifel an ihrer Identität haben. Den Sohn meiner verschwundenen Tochter habe ich durch einen anonymen Telefonanruf gefunden. Wenige Blocks von meinem Zuhause arbeitete mein Enkel in einem Sportgeschäft.

* Aus: Neues Deutschland, 30. August 2011


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