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Argentinien 30 Jahre nach dem Putsch

Ein Rückblick auf die letzte Militärdiktatur (1976-1983) und deren Auswirkungen bis heute

Von Stephanie Rauer, Katharina Wieland und Olga Burkert*

Noch immer ist Argentiniens Gesellschaft von acht Jahren Diktatur geprägt. Aus diesem Anlass schreiben die AutorInnen dieses Schwerpunktes über die Gegenwert und die Zukunft ebenso wie über die Vergangenheit. In historischen Rückblicken, kritischen Bilanzen und Entwürfen für eine zukünftige Erinnerungskultur.

Am 24. März 2006 jährt sich zum 30. Mal der letzte Putsch in Argentinien. Mit diesem leiteten die Militärs 1976 eine der grausamsten Phasen der jüngsten argentinischen Geschichte ein. Staatliche Repression und Terror beherrschten für die folgenden acht Jahre das Land. 30.000 Verschwundene und Ermordete sind die traurige Bilanz des Regimes. Tausende Kinder dieser Verschwundenen blieben als Halb- oder Vollwaisen zurück.

Jedoch ist der 24. März 1976 nicht einfach ein Datum der Geschichte, dem regelmäßig auf die eine oder andere Art gedacht wird. Denn das politische, soziale und wirtschaftliche „Erbe“ der Diktatur wirkt sich auf die gesamte argentinische Bevölkerung bis in die Gegenwart aus. Deshalb werden die Lateinamerika Nachrichten in dieser Ausgabe die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Argentinien nicht nur aus historischer Perspektive unter die Lupe nehmen. Wir wollen vor allem die Bedeutung des Putsches bis in die heutige Zeit unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Wie wird im Jahr 2006 in Argentinien an den 24. März 1976 erinnert? Welche Erinnerungspraktiken und -diskurse existieren in diversen Bereichen der Gesellschaft? Wie setzen sich die jüngeren Generationen mit der Diktatur auseinander und welche Bedeutung hat der Putsch für sie heute noch?

30 Jahre danach ist auch für die unterschiedlichen Akteure der heterogenen Menschenrechtsbewegung der Zeitpunkt gekommen, eine kritische Bilanz zu ziehen. Aber wir wollen nicht nur aus der Ferne über die Lage in Argentinien urteilen. Daher lassen wir Stimmen aus Buenos Aires zu Wort kommen – wie Violeta Rosemberg, die in ihrem Beitrag über die Vorbereitungen auf den Jahrestag in Argentinien schreibt, oder Osvaldo Bayer, der in seiner Reportage auf sein Exil in Deutschland und seine Rückkehr nach Argentinien nach dem Ende der Diktatur zurückblickt. Zugleich wollen wir unseren Blick auch auf Deutschland richten: Welche Rolle hat die westdeutsche Regierung während der Diktatur gespielt? Esteban Cuya beleuchtet in seinem Hintergrundbericht die Zusammenarbeit des bundesdeutschen Botschafters mit der Militärjunta und den Schergen der paramilitärischen Triple A.

Traumatische Vergangenheit

Bis heute bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart: Soziales Bewusstsein oder angstvolles Schweigen – die Erfahrungen aus der Zeit der Diktatur prägen und spalten die argentinische Bevölkerung seit drei Jahrzehnten. Noch heute hört man in Argentinien oft den Kommentar: „Por algo será“ („Irgendetwas werden sie schon getan haben...“). Oder dass dem Militär wohl etwas die „Hand ausgerutscht sei“. Diese Verklärung der Diktatur, die „endlich die Ordnung in das politisch Chaos des Landes zurückbrachte“, verschleiert, dass die Vernichtung der RegimegegnerInnen ein von Anfang an geplantes und systematisch durchgeführtes Vorhaben war. General Ibérico Saint Jean, argentinischer Brigadegeneral und Gouverneur von Buenos Aires während der Diktatur, sagte schon unmittelbar nach dem Putsch der Generäle: „Erst werden wir die Subversiven töten, dann die Sympathisanten, danach die Gleichgültigen und zum Schluss die Unsicheren.”

Der so genannte Prozess der Nationalen Reorganisation legte von Anfang an die Umstrukturierung der argentinischen Gesellschaft nach den Maßstäben des konservativ-katholischen Weltbilds der Militärs fest: Gezielt sollte eine sozial und politisch engagierte Generation, die der Ideologie der Militärs widersprach, vernichtet werden. Die Kategorie des subversivo als ein rechtloses Subjekt, das kein Recht auf einen Namen oder eine individuelle Geschichte hat, wurde öffentlich konstruiert. Dieser war nur noch „Subversiver”, gegen den mit aller Härte vorgegangen werden musste. Jenes konstruierte Feindbild, das großzügig auf alle RegimegegnerInnen angewandt wurde, diente als Rechtfertigung für die Gewalt gegen weite Teile der Bevölkerung. Unterdessen bejubelte die nationale und auch die internationale Presse den „unblutigen Putsch” und das Ende der poltischen Gewalt in Argentinien. Und auch große Teile der argentinischen Gesellschaft atmeten nach dem Staatsstreich zunächst erleichtert auf.

Im Namen der nationalen Sicherheit

Vorausgegangen waren dem Putsch Jahre politischer Unsicherheit. 1974 starb der kurz zuvor aus dem Exil zurückgekehrte Juan Domingo Perón, der sich in seiner zweiten Amtszeit (1973-1974) stark von seinem früheren Diskurs und den linken peronistischen Jugendorganisationen abgewendet hatte. Nach seinem Tod übernahm seine zweite Frau Isabel das Präsidentenamt. Diese paktierte sogleich mit den konservativen und militärischen Kräften der Gesellschaft und beauftragte paramilitärische Gruppen, wie die Antikommunistische Allianz Argentiniens (AAA, bekannt als Triple A) mit der Vernichtung der sich verstärkt organisierenden Guerillagruppen. Es begann der so genannte „schmutzige Krieg” gegen die eigene Bevölkerung.

Doch innerhalb des Militärs erhöhte sich der Missmut gegen die „schwache Regierung” Isabel Peróns: Sie sei nicht in der Lage, die Sicherheit des Landes aufrecht zu erhalten. Obwohl die Guerilla 1976 de facto keine ernsthafte Bedrohung mehr darstellte, putschten sich die Militärs am 24. März 1976 im Namen der nationalen Sicherheit an die Macht.

In den folgenden Jahren wurden Tausende Andersdenkende und politisch engagierte Menschen entführt, und in über das Land verteilten geheimen Haftzentren gefoltert und ermordet. Tausende Menschen verschwanden spurlos. Ihre Identitäten sollten ausgelöscht werden: Die Gefangenen erhielten Nummern, ihre Namen und persönlichen Geschichten wurden vernichtet. Gezielt machten sich die Folterer daran, auch das Schicksal der nachfolgenden Generation massiv zu verändern und das in ihren Worten „subversive Erbe” auszumerzen. Schwangere Frauen wurden in der Haft trotz Folter so lange am Leben gehalten, bis sie ihre Kinder zur Welt gebracht hatten. Diese wurden dann illegal von Familien oder Freunden der Militärs adoptiert und mit den „richtigen Werten” erzogen. Nicht selten wurden kleine Kinder zusammen mit ihren Eltern entführt und mussten deren Folterungen mitansehen.

Anfänge des Widerstandes

Doch schon zu Beginn der Diktatur regte sich Widerstand gegen den staatlichen Terror. Bereits 1977 versammelten sich die Mütter von Verschwundenen wöchentlich auf der Plaza de Mayo, dem politischen Zentrum von Buenos Aires, um für die Aufklärung der Schicksale ihrer Söhne und Töchter zu demonstrieren. Die Mütter trafen sich zunächst auf den Fluren der Behörden und Ministerien, wo sie vergebens auf Informationen über den Verbleib ihrer Kinder warteten. Dort stellen sie fest, dass sie alle dasselbe Schicksal teilten und begannen gemeinsam gegen die Menschenrechtsverletzungen des Regimes anzugehen. Seit 1979 sucht ein Teil von ihnen als „Großmütter der Plaza de Mayo” nach den entführten Enkeln und den Kindern, die in den geheimen Haftzentren geboren wurden.

Spätestens mit der Fußballweltmeisterschaft, die 1978 in Argentinien stattfand, traten die anfänglichen Menschenrechtsbewegungen ans Licht der internationalen Öffentlichkeit. Die Militärjunta versuchte hingegen, die WM dazu zu nutzen, ein Feuer des Nationalismus in der argentischen Bevölkerung zu entfachen. International stellte sie sich als eine Musterregierung dar, die für politische Stabilität und verbeserte Infrastruktur sorge. Leider war das auch der Tenor, der die internationale Berichterstattung – vor allem auch die bundesdeutsche – in Bezug auf die WM in Argentinien beherrschte. Folter und Terror wurden bestritten. Aufklärungskampagnen über die Gräueltaten des Militärs wurden als „kommunistische Propaganda” gegen Argentinien stigmatisiert. Als Knackpunkt für den Machtverlust der Diktatur kann der verlorene Krieg um die Falklandinseln 1982 bezeichnet werden. Diesen hatte die Militärregierung begonnen, um ein nationalistisches Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das die wachsende innenpolitische Unzufriedenheit kanalisieren sollte. So waren im Vorfeld des Krieges die Proteste gegen das offensichtliche Versagen auf der wirtschaftlichen Ebene und die Menschenrechtsverletzungen immer stärker geworden. Nach der militärischen Niederlage hatte das Regime somit einen entscheidenden Legitimitätsverlust erlitten, was sich in Massenprotesten gegen die Regierung widerspiegelte. Letztlich war der Übergang zur Demokratie nicht mehr aufzuhalten.

Versprechen der neuen Demokratie

Im Oktober 1983 wurde Raúl Alfonsín von der Radikalen Partei zum neuen Präsidenten Argentiniens gewählt. Der Anwalt machte die Aufarbeitung der Verbrechen und die Verurteilung der Verantwortlichen zum zentralen Thema seines Wahlkampfes. Nach seinem Regierungsantritt ging er zunächst auch schnell daran, seine Versprechen umzusetzen: Die Nationale Kommission über das Verschwindenlassen von Personen (CONADEP) wurde eingerichtet, die insgesamt über 9.000 diesbezügliche Fälle dokumentierte. Die CONADEP hatte jedoch keinerlei juristische Befugnisse, was ihr große Kritik seitens der Menschenrechtsbewegung einbrachte. Gleichzeitg wurden Prozesse gegen die höchsten Verantwortlichen angestrengt. Am 9. Dezember 1985 wurden gegen die Juntachefs Videla, Massera, Viola, Lambruschni, Agosti sowie Galtieri, Graffigna, Anaya und Lami Dozo zum Teil lebenslängliche Haftstrafen ausgesprochen.

Doch die anfänglichen Hoffnungen der Zivilgesellschaft auf verdad y justicia (Wahrheit und Gerechtigkeit) wurden schnell zunichte gemacht. Der Druck aus den Reihen des Militärs stieg, da sie das Ansehen „ihrer” Institution durch die Prozesse gefährdet sahen. Alfonsín gab schließlich nach und erließ in den Jahren 1986 und 1987 die Amnestiegesetze Punto Final (Schlusspunkt) und Obediencia Debida (Befehlsgehorsam). Die Glaubwürdigkeit des Präsidenten in der Bevölkerung und vor allem innerhalb der Menschenrechtsbewegung begann rasch zu sinken. Ihre Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit sollten aber noch weiter enttäuscht werden: 1989 gewann der Peronist Carlos Menem die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen und sprach kurz nach seinem Amtsantritt eine weit reichende Begnadigung für das ehemalige Militärregime aus. Menem trieb das von den Militärs eingeführte neoliberale Wirtschaftsprojekt in ungekanntem Maße voran. Während seiner zehnjährigen Amtszeit erlebte Argentinien zwar einen starken Wirtschaftsaufschwung – der Preis dafür zeigte sich jedoch mit aller Härte in der Wirtschaftskrise Ende 2001.

Erst mit dem Regierungsantritt von Néstor Kirchner im Jahr 2003 erfuhr der staatliche Menschenrechtsdiskurs in Argentinien eine substantielle Veränderung. Unter Kirchner annullierten Senat und Oberster Gerichtshof 2005 die Gesetze zur Straflosigkeit. Innerhalb unseres Schwerpunkts widmet sich Wolfgang Kaleck diesem Thema.

Kritische Rückblicke

30 Jahre danach ist auch für die unterschiedlichen AktivistInnen der Menschenrechtsbewegung der Zeitpunkt gekommen, eine kritische Bilanz zu ziehen. Wie gehen sie mit der staatlichen Vereinnahmung des Diskurses um? VertreterInnen aus verschiedenen Organisationen, wie zum Beispiel Laura Conte von den Abuelas de Plaza de Mayo oder die Menschenrechtsanwältin Laura Figueroa aus der nördlichen Provinz Tucumán, blicken in dieser LN auf den teils drei Jahrzehnte währenden Kampf gegen die Straflosigkeit zurück.

Carlos Pisoni von der Organisation der Kinder von Verschwundenen H.I.J.O.S. repräsentiert in diesem Schwerpunkt die Generation, die sich – verursacht durch die Leerstelle, die die verschwundenen Eltern hinterließen – noch immer auf der Suche nach der eigenen Identität befinden. Hier wird deutlich, wie stark in der Vergangenheit begangenes Unrecht die Gegenwart beeinflusst. Die hijos und hijas konstruieren eine kollektive Identität als Kinder von Verschwundenen und entwickeln verschiedene Strategien, um die Erinnerung an diese Vergangenheit wach zu halten. Außerdem betonen sie die Bedeutung, die die Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft und im Kampf gegen anhaltende soziale Ungerechtigkeit hat.

Häufig versucht die „Generation der Kinder von Verschwundenen“ das Erbe der Militärdiktatur mit Hilfe des Mediums (Dokumentar-)Film zu verarbeiten. Marcos Barra beschreibt in seinem Beitrag an einigen exemplarisch ausgewählten Beispielen das cine memoria (Kino der Erinnerung): Ausdrucksformen junger argentinischer FilmemacherInnen, die sich mit den Themen Erinnerung, kollektives Gedächtnis und Identitätssuche auseinander setzen.

* Aus: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 381 - März 2006


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