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Opposition in Argentinien: Politische Einheit in Sicht?

Interview mit Claudio Lozano, Professor für Ökonomie an der Universität von Buenos Aires

Das folgende Interview erschien am 8. Januar 2003 in der Tageszeitung "junge Welt".

jW sprach mit Claudio Lozano, Vorstandsmitglied des argentinischen Gewerkschaftsdachverbandes CTA und Professor für Ökonomie an der Universität von Buenos Aires
Das Gespräch führte Timo Berger.


F: Vor einem Jahr ging die argentinische Bevölkerung auf die Straße mit der Parole: »Alle sollen verschwinden!« Auch die CTA beteiligte sich an einem Bündnis zur Aufhebung aller politischen Mandate. Doch diejenigen, denen der Ruf galt, sind immer noch im Amt. Ist das Bündnis gescheitert?

Es ist nicht gescheitert, es hat aber nur einen Punkt seiner Agenda verwirklichen können: den trügerischen Charakter der kommenden Präsidentschaftswahlen zu denunzieren. Wir haben es nicht geschafft, zu konkreten Übereinkünften zu gelangen.

F: Das Schicksal Ihres Bündnisses erscheint symptomatisch für die argentinische Opposition. Warum gelingt es ihr nicht, in einer Partei nach dem Muster der brasilianischen PT zusammenzufinden?

Das hat mit unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen zu tun: In Argentinien gab es in den 70er Jahren einen Genozid, der der Bevölkerung die Fähigkeit nahm, sich gegen die neoliberalen »Reformen« zur Wehr zu setzen. In Brasilien ging keine vergleichbare Repression vonstatten. Argentinien durchlebte einen Prozeß der Deindustrialisierung, die das Land seiner materiellen Basis beraubte, während es in Brasilien zu einer Beschleunigung der Industrialisierung kam. So konnten neue soziale und politische Akteure entstehen, und starke Gewerkschaften konnten sich etablieren. Diese treiben den momentanen Prozeß in Brasilien voran. In Argentinien dagegen existiert heute ein hoher Grad an gesellschaftlicher Zersplitterung. Dennoch glauben wir, daß es grundsätzlich möglich ist, die Bevölkerung zusammenzuführen, jenseits der Grabenkämpfe ihrer vermeintlichen Anführer. Denn die Bevölkerung ist mehrheitlich davon überzeugt, daß die wirtschaftliche und soziale Marschrichtung verändert werden muß.

F: Nicht alle der neu entstandenen Basisbewegungen haben ein ungetrübtes Verhältnis zur CTA. Gerade unter den organisierten Arbeitslosen, den Piqueteros, gibt es Gruppen, die ihrem Gewerkschaftsdachverband durchaus kritisch gegenüberstehen.

Wir sind ein Gewerkschaftsdachverband, der im Unterschied zum traditionellen argentinischen Syndikalismus eine neue Art der Organisation entwickelt hat. Unser Dachverband nimmt nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Arbeiter, Arbeitslose und illegal Beschäftigte direkt auf. Auch der repräsentativste Sektor der Piqueteros ist Teil unseres Dachverbands. Mit einigen kleineren Gruppen der Piqueteros gibt es in der Tat noch Differenzen. Wir haben stets versucht, diese Gegensätze zu überbrücken, was nicht immer gelungen ist.

F: Man spricht sehr viel vom besonderen Status der Arbeitslosenbewegung in Argentinien. Haben heute die Arbeitslosen im sozialen Konflikt die Rolle inne, die vorher die Arbeiter ausfüllten?

Es ist eine Tatsache, daß in Zeiten massenhafter Arbeitslosigkeit und tiefgreifender Flexibilisierung des Arbeitsmarkts die Fähigkeit, im »Inneren der Arbeit« und an den Arbeitsplätzen zu kämpfen, viel geringer ist als früher – schon aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes. Deshalb kam es zu einer Verschiebung in Richtung der gebietsorientierten Gruppen, die beispielsweise die Bevölkerung in einem Stadtteil organisieren. Diese Gruppen werden die meisten Konflikte austragen. Der gebietsorientierte Sektor meint hier aber nicht, daß nur Arbeitslose beteiligt sind – Arbeiter machen mit, Teile des öffentlichen Dienstes und private im jeweiligen Stadtteil angesiedelte Firmen. Es entsteht also ein Kampf mit gemeinschaftlichem Charakter.
In diesem Sinn muß daran gearbeitet werden, einer Einheit näherzukommen und nicht der Spaltung anheimzufallen. Sowohl die Haltung der traditionellen Gewerkschaften, die nur Arbeiter aufnehmen, als auch derjenigen, die allein die Piqueteros ins Zentrum des Handelns stellen, befördern den Riß durch die Basisbewegungen. Doch dieser Bereich braucht vor allem eins: Raum, um eine politische Einheit aufzubauen.

Aus: junge Welt, 8. Januar 2003


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