Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die indigene Kultur steht auf dem Spiel

nd-Solidaritätsaktion: In Argentiniens Provinz Jujuy müssen die Ureinwohner um ihre traditionelle Lebensweise kämpfen

Von María Inés Zigarán und Elisabeth Jeglitzka, WFD *

Der Weltfriedensdienst (WFD) unterstützt den Rat der Indigenen Organisationen in Nordargentinien bei der Zuerkennung kollektiver Landrechte. Erst elf Gemeinden haben ihren Landtitel bisher erstreiten können. Auch die UNO ist auf das Problem aufmerksam geworden und schickte ihren Sonderberichterstatter für Indigene Rechte, James Anaya vorbei.

4. Dezember 2011, auf der Hochebene bei Ojo de Huancar zwischen den argentinischen Provinzen Jujuy und Salta haben sich rund 500 Indígenas aus 33 Gemeinden versammelt. Sie haben den langen Weg in die abgelegene Andensteppe auf sich genommen, weil sie gespannt auf hohen Besuch warten. James Anaya, der unabhängige UN-Sonderberichterstatter für Indigene Rechte, hat seinen Besuch angekündigt und sie setzen große Hoffnung darauf. Er wird sich über die Situation der Indígenas informieren und den Vereinten Nationen dazu Bericht erstatten. Nach Stunden des Wartens erscheint am Horizont endlich ein Hubschrauber. Unter ohrenbetäubendem Lärm nähert er sich. Die bunten Fahnen geraten mächtig ins Wehen und erst als der Motor langsam abstirbt, wird die Musik hörbar, die zur Begrüßung von James Anaya gespielt wird.

Große Hoffnungen lasten auf Anaya

Trotz der fröhlichen Begrüßung ist der Besuch von tiefem Ernst gezeichnet. Anaya wurde eingeladen, um sich über die Besorgnis erregende Menschenrechtssituation vor Ort zu informieren. Die indigene Bevölkerung ist in ganz besonderem Maße betroffen. Die Probleme reichen von Vertreibung über die Zerstörung der wirtschaftlichen und kulturellen Lebensgrundlagen bis zur ethnischen Diskriminierung. Die indigenen Frauen leiden besonders unter der Situation. Bei einem Treffen zwischen Anaya und der Leiterin des Rates der Indigenen Organisationen von Jujuy (COAJ), Natalia Sarapura, und einigen Mitarbeiterinnen des Projekts »Rechtsprechung Indigene Frau« (Jurisprudencia Mujer Indígena) wurde Anaya in die komplexe Problematik eingeführt.

Viele indigene Frauen leiden unter systematischen Verletzungen ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sowie ihrer Rechte als Indigene. Schon in der Bildung, die ihnen eigentlich Wege zur Selbstbestimmung und zu besseren Lebensbedingungen ebnen sollte, stoßen sie auf fast unüberwindbare Hindernisse. Die übermäßig hohe Analphabetismusquote unter den indigenen Frauen spricht für sich. Viele indigene Gemeinden befinden sich in entlegenen ländlichen Gebieten des weitflächigen argentinischen Nordens. Meist sind sie nur mit einer schlecht besetzten Grundschule ausgestattet. Um eine weiterführende Schule zu besuchen, müssen weite Strecken zurückgelegt oder der Wohnort gewechselt werden. Für eine indigene Frau ist dies mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Wege sind mühsam, vor allem mit Kindern, und nicht selten gefährlich. Finanzielle Mittel für Verkehrsmittel oder gar eine Wohnstätte in einem anderen Ort sind so gut wie nicht aufzubringen. Dazu kommt die kulturelle Deprivation. Die Lehrpläne der argentinischen Schulen sind nicht auf die Vielfalt von Ethnien des Landes abgestimmt. Auch die Städte, an denen weiterführende Bildung angeboten wird, erlauben es den Indígenas nicht, die traditionelle Lebensweise aufrecht zu erhalten. Häufig können sie nicht einmal ihre eigene Sprache beibehalten. Diese Bildungsstruktur des öffentlichen Sektors greift tief in das Leben der Indígenas ein: Auf dem Spiel steht ihre Identität und die soziale Integrität der Gemeinden, denn die Frauen, viele von ihnen Mütter, fühlen sich verantwortlich für die Weitergabe der Kultur an ihre Kinder. Die indigenen Frauen stehen vor der Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder sie bleiben in ihren Gemeinden und geben ihre Bildung auf oder sie distanzieren sich von ihrem kulturellen Ursprung und übernehmen eine andere Lebensweise. Und auch im letzteren Fall sind sie vor ethnischer und geschlechtlicher Diskriminierung nicht geschützt. Unter den gegebenen Bedingungen sind Gemeindeleben und Bildung unvereinbar.

Das macht die indigenen Frauen verwundbar. Zur fehlenden intellektuellen Selbstbestimmung kommt oft noch große materielle Armut, die wiederum ungezählte Einschränkungen mit sich bringt, nicht nur für die Frauen selbst, sondern ebenso für die folgende Generation.

Die Teilnehmenden des Projekts »Rechtsprechung Indigene Frau« unter der Leitung von COAJ-Präsidentin Natalia Sarapura treten, unterstützt vom Weltfriedensdienst, gegen diesen grundlegenden Missstand an. Sie verbreiten Informationen über die Lage und ermutigen Frauen, sich in nicht-staatliche Bildungseinrichtungen zu integrieren. COAJ selbst hat hier einen wichtigen Schritt unternommen und den weiterführenden Studiengang »Indigene Entwicklung« geschaffen. Aber vor allem hilft das Projekt den Frauen dabei, Gerichte anzurufen, wenn ihre Rechte verletzt werden.

Der Besuch von James Anaya ist für den Erfolg ihrer Arbeit von großer Bedeutung. Anaya verfügt über Mittel, die schwierige Situation der indigenen Frauen an die argentinische und internationale Öffentlichkeit zu bringen. Von seinen Empfehlungen an den argentinischen Staat erhofft sich das Projekt, dass die regionale Rechtsprechung endlich den nationalen Gesetzen und internationalen Abkommen entsprechen wird. Dies ist auch die Erwartung der versammelten Indígenas, die Anaya auf der Hochebene bei Ojo de Huancar begrüßen. Vor den Salzstätten Salinas Grandes möchten sie Anaya die Menschenrechtsverletzungen vor Ort schildern.

Ein Bergbauunternehmen soll mit Einverständnis der argentinischen Regierung aus den Salzstätten den heiß begehrten Rohstoff Lithium abbauen. Lithium steht hoch im Kurs, zum Beispiel weil man ihn für Handy-Akkus braucht. Durch die Lithiumproduzenten wird den Indígenas jedoch der Zugang zu den Salzablagerungen verboten. Auch droht durch die Produktionsweise das Grundwasser zu versalzen und wird so für die Bewässerung der kargen Landschaft unbrauchbar. Die ortsansässigen Indígenas, die schon seit Generationen kollektiv Salz abbauen und das Land nachhaltig bewirtschaften, sind vor Gericht gegangen. Ihr Recht auf Information und Absprache wurde massiv verletzt. Jetzt sehen sie sich in ihrer Existenzgrundlage bedroht. Der einzige Ausweg aus dem Konflikt scheint der Rechtsweg zu sein, denn ziviler Widerstand, wie Straßenbesetzungen, wurde andernorts durch Militäreinsätze im Keim erstickt. Die Indígenas von Salinas Grandes sind gezwungen, darauf zu warten, dass ihnen von der Justiz Landtitel für die Salzstätten und die umliegenden Flächen zugesprochen werden. Bevor es zu spät ist.

Langer Kampf um die indigenen Rechte

James Anaya zeigt sich am Ende seines Besuches beeindruckt, er hat sich die Anliegen der Indígenas von Jujuy offenkundig zu Herzen genommen. Sein erstes Resümee macht Hoffnung. Es scheint, als habe er die Sorgen der Menschen verstanden. Dann steigt Anaya wieder in den Helikopter, beladen mit den großen Hoffnungen vieler Menschen. Seine Empfehlungen sollen die Erfahrungen der Indígenas von Jujuy und Salta aufgreifen und den argentinischen Staat zum Handeln bewegen. Die Indigenen kehren derweil in ihre Gemeinden zurück, um den Kampf für ihre Rechte fortzusetzen. Bis zur Veröffentlichung der Empfehlungen werden noch Monate vergehen, die die Indígenas nicht tatenlos verstreichen lassen können.

* Aus: neues deutschland, 31. Dezember 2011


Zurück zur Argentinien-Seite

Zurück zur Homepage