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Wie Phönix aus der Asche

Argentiniens Wirtschaft prosperiert seit der Staatspleite vor zehn Jahren

Von Martin Ling *

Ein Blick nach Argentinien könnte den Griechen Optimismus verleihen: Ein Staatsbankrott kann ein Ende mit Schrecken sein statt ein Schrecken ohne Ende, wie ihn Hellas seit Jahren und noch ganz ohne offiziellen Staatsbankrott erlebt. Doch was Argentinien gelang, ist für Griechenland angesichts anderer politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen kaum möglich.

Vor zehn Jahren, von Dezember 2001 bis Februar 2002 lag Argentinien nach dem größten Staatsbankrott der jüngeren Geschichte komplett am Boden. Die politische Klasse leistete ihren Offenbarungseid. Fünf Präsidenten in zwei Wochen gaben sich die Klinke in die Hand statt der Forderung »Que se vayan todos!«auf den Massendemonstrationen nachzukommen und abzuhauen. Deutlich stabilisierte sich die Lage erst mit dem Amtsantritt im Mai 2003 von Néstor Kirchner, der 2010 überraschend verstarb. In der seitdem andauernden Ära des »Kirchnerismo« legte Argentinien Wachstumsraten in annähernd chinesischen Dimensionen vor. Nun werden Überlegungen angestellt, inwieweit der argentinische Weg aus der Krise Athen als Modell dienen könnte. Dabei ist offensichtlich, dass Griechenland als Mitglied der EU und der Euro-Zone dem argentinischen »Modell« nur mit Zustimmung von Brüssel, Berlin und Paris folgen könnte und die wird es so wenig geben, wie einst vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und dem Pariser Club (Zusammenschluss von Gläubigerländern) für Argentinien. Denn diesen Institutionen und Regierungen geht es grundsätzlich darum, die Gläubigeransprüche soweit zu retten, wie es das Land eben zulässt, ohne dass die Interessen der Durchschnittsbevölkerung berücksichtigt werden.

Olivenöl und Feta reichen nicht

Dass Griechenland der EU und den internationalen Finanzinstitutionen die Stirn bietet und sich wie Argentinien »freiwillig« in die Isolation der Finanzmärkte begibt, ist nicht zu erwarten. Zumal das Land realökonomisch mit seiner geringen Produktivität und eingeschränkten Exportpalette, die außer Olivenöl und Feta nur ein wenig Textilien und Chemikalien umfasst, nicht die Voraussetzungen hat, ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen, wie es Argentinien gelungen ist, nachdem es sich von den IWF-Rezepten losgesagt hat.

Oberflächlich ist die Situation Griechenlands durchaus mit der Argentiniens vergleichbar. Argentinien taumelte seit 1998 wie jetzt Griechenland mehrere Jahre durch eine schwere Rezession. Das Wachstum stagnierte, der Peso war per Gesetz an den Dollar gekoppelt, was eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt mittels Abwertung ebenso ausschloss wie jetzt bei Griechenland aufgrund der Gemeinschaftswährung. Wie in Athen folgte auch in Buenos Aires Sparpaket auf Sparpaket. Und hier wie dort mündeten diese immer tiefer in die Krise. Damit aber enden die Parallelen. Ein Einfrieren der Bankguthaben, um die Kapitalflucht einzudämmen, wie es die Regierung von Fernando de la Rúa im Dezember 2001 verfügte, ist jenseits des Handlungsspielraums eines griechischen Premiers. Das gilt auch für eine einseitige Einstellung der Schuldenzahlungen, wie sie Übergangspräsident Adolfo Rodríguez Sáa nach dem Rücktritt de la Rúas verkündete. Dessen Abgang war durch massive Proteste erzwungen worden: Aufgebrachte Bürger demonstrierten auf den Straßen, Supermärkte wurden geplündert, der Nationalkongress brannte. Bei den blutigen Unruhen kamen damals mindestens 22 Menschen ums Leben. Ein Menetekel für Griechenland?

Als Rodríguez Sáa in der letzten Dezember-Woche des Jahres 2001 verkündete, die Schulden nicht mehr bedienen zu können, stand das Land mit mehr als 100 Milliarden Dollar bei Gläubigern auf der ganzen Welt in der Kreide. Anfang 2002 hob der neue Präsident Eduardo Duhalde dann die seit 1991 gesetzlich festgeschriebene Bindung der Landeswährung Peso an den Dollar auf, die bedeutende Teile der heimischen Exportwirtschaft wegen der sukzessiv angestiegenen Überbewertung in den Ruin getrieben hatte.

Paria aus »freien« Stücken

Seit dem Staatsbankrott ist Argentinien ein »Paria« auf den internationalen Finanzmärkten. Zudem kam der harte Kurs des von 2003 bis 2007 amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner gegenüber den privaten Gläubiger nicht gut an. Nach dem sonst nur vom IWF bekannten Motto »Friss oder stirb« bot er 2005 den privaten Anlegern an, entweder auf 75 Prozent ihrer sich insgesamt auf 104 Milliarden US-Dollar belaufenden Forderungen zu verzichten oder ganz leer auszugehen.

Die Rechnung ging für Argentinien zu 80 Prozent auf. Nach zwei weiteren Umschuldungsaktionen im Dezember 2010 sind inzwischen rund 93 Prozent der 2001 notleidend gewordenen Anleiheschulden umgeschuldet. Die Regierung der 2007 ihrem Mann an der Staatsspitze folgenden Cristina Kirchner hegt nun die Hoffnung, dass jene Altgläubiger, die weiterhin auf volle Rückzahlung ihrer Forderungen klagen, bei Richtern auf taube Ohren stoßen. Noch immer beläuft sich der vor Gerichten in aller Welt verhandelte Streitwert aus Argentinien-Anleihen auf mehr als vier Milliarden Dollar.

Nach ihrer triumphalen Wiederwahl Ende Oktober 2011 wird auch erwartet, dass Cristina Kirchner die laufenden Verhandlungen mit dem Pariser Club zu einem baldigen Ende bringt. Den dort versammelten Gläubigerländern schuldet Argentinien seit 2001 rund sieben Milliarden Dollar, die nun beglichen werden sollen, wobei um die Konditionen noch gefeilscht wird.

Zwar hat die »Paria-Stellung« Argentinien de facto vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, doch das Land konnte das gut verkraften. Das beträchtliche Wirtschaftswachstum von 2003 bis 2007 mit jährlichen Raten von über acht Prozent kam ohne Zufluss von ausländischem Kapital zustande - in Griechenland wäre ein solches Szenario aufgrund der Schwäche der Binnenwirtschaft undenkbar. Und auch nach dem Einbruch 2009 durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise kombiniert mit einer Dürre, konnte Argentinien bereits 2010 wieder über sieben Prozent Wachstum verzeichnen. Ein generelles Ende dieses Wirtschaftsbooms ist nicht in Sicht, auch wenn Argentinien nicht frei von globalen Konjunkturen und Verwerfungen sowie internen Problemen wie relativ hoher Inflation und Kapitalflucht ist.


Wirtschaftswunder in Argentinien: Alle reden von China, kaum jemand von Argentinien. Wenn in den Medien von wirtschaftspolitischen Erfolgsgeschichten in Schwellenländern die Rede ist, wird seit Jahren zu allererst das Reich der Mitte genannt. Auch Indien und Brasilien werden als positive Beispiele für prosperierende Schwellenländer erwähnt. Argentinien bleibt in diesem Kontext meist ausgespart: Dabei legte Argentinien bald nach dem Staatsbankrott Ende 2001 Wachstumsraten in annähernd chinesischen Dimensionen vor - nachdem sich das Land vom Internationalen Währungsfonds und von Rezepten verabschiedete, wie sie derzeit Griechenland verschrieben werden. Die Kirchners halten seit 2003 das Regierungszepter in Argentinien in der Hand. Die derzeitige Präsidentin Cristina Kirchner übernahm 2007 die Amtsgeschäfte von ihrem Ehemann Néstor Kirchner, der 2010 verstarb.



Eine kurz vor Kirchners Wiederwahl erschienene Studie des Centre for Economic Policy Research in Washington belegt, wie bemerkenswert gut sich die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren in den ersten neun Jahren nach der Zahlungsunfähigkeit des Landes entwickelt haben. Argentinien erzielte dieses Wachstum trotz der Zahlungsunfähigkeitserklärung, trotz der Schwierigkeiten, auf den internationalen Kapitalmärkten Geld zu bekommen, und trotz relativ geringer ausländischer Direktinvestitionen, so die Autoren Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Juan Montecino und Sara Kozameh in der Studie.

Massiver Rückgang der Armut

Laut besagter Studie hat die Armut gegenüber ihrem höchsten Punkt um zwei Drittel abgenommen, von fast der Hälfte der Bevölkerung in 2001 auf ungefähr ein Siebtel Anfang 2010. Die extreme Armut sei ebenso stark gesunken, von über einem Viertel der Bevölkerung in 2001 auf rund ein Fünfzehntel. Vier Millionen Arbeitsplätze entstanden unter dem »Kirchnerismo«. Der allgemein verbreiteten Auffassung, dass Argentiniens Wachstum allein von hohen Preisen für seine Agrarexporte, insbesondere Soja, getrieben sei, wird in der Studie widersprochen. In der Tat hatte Argentinien schon vor dem ab 2006 einsetzenden Soja-Boom hohe Wachstumsraten, die vor allem auf der Revitalisierung der argentinischen Wirtschaft infolge der durch die massive Abwertung des Peso gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit beruhten. Über die ökologischen und sozialen Folgen der Sojaexpansion wird hinweggesehen: Die Felder werden meist mit einem Cocktail aus Agrochemikalien besprüht, gegen die das genveränderte Soja resistent ist. Hauptwirkstoff: Glyphosat. Die Folgen sind unter anderem Fehlgeburten und Missbildungen und eine Zunahme der Krebserkrankungen. Eine gesellschaftliche Debatte über Gensoja findet kaum statt.

Neben den Sojaexporten sind es vor allem die Autoindustrie und die Telekommunikations- und Softwarebranche, die neben dem hohen privaten Konsum Argentiniens Wirtschaft antreiben. Auch ein massiver Ausbau des Bergbaus ist geplant - im Fokus steht die Produktion von Gold, Silber, Kupfer, Lithium und Kaliumchlorid. Hier wird sich erweisen müssen, ob das 2010 verabschiedete Gletscherschutzgesetz wie auf dem Papier festgeschrieben Bergbauprojekten wenigstens dort Grenzen setzt, wo Gletscher oder deren Umfeld gefährdet sind.

Das Potenzial für anhaltendes Wirtschaftswachstum ist gegeben. Für Roberto Lavagna, der als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2005 den Grundstein für diese wirtschaftliche Entwicklung legte, sich inzwischen aber zum Kritiker der Wirtschaftspolitik des »Kirchnerismo« gewandelt hat, besteht Grund zur Besorgnis: »Die Inflation ist hoch, die Preise steigen immer weiter, die Haushaltsdisziplin wurde aufgegeben. Während die Steuereinnahmen sinken, steigen die Ausgaben des Staates. 2005 hatten wir noch ein Plus im Haushalt von 16 Milliarden Dollar, inzwischen weist die Regierung ein Defizit auf. Investitionen, die nötig wären, werden nicht getätigt.«

Porsche mutiert zum Weinhändler

Kirchner steuert mit unorthodoxen Mitteln dagegen: Seit Jahresbeginn 2011 verlangt Argentinien, dass Autohersteller genauso viel exportieren wie importieren, um die Handelsbilanz zu verbessern und den schneller als die Exporte steigenden Importen entgegenzuwirken. Seitdem tritt Porsche als Weinhändler auf, Nissan will seine Quote unter anderem durch die Ausfuhr von Sojaöl und Biodiesel erfüllen. Solche Gängelung von Unternehmen kann sich nur eine Regierung leisten, die weiß, dass die Firmen auf den Absatzmarkt ihres Landes angewiesen ist.

Die von Lavagna angesprochenen Defizite bei den Investitionen könnten sich allerdings zur Achillesferse des argentinischen Wirtschaftswunders entwickeln: Ohne Innovation und Erneuerung des Kapitalstocks kann die wirtschaftliche Dynamik nicht aufrechterhalten werden, ganz zu schweigen davon, dass der die Böden auslaugenden Soja-Monokultur ebenso wie dem privaten Konsum natürliche beziehungsweise monetäre Grenzen gesetzt sind. Probleme allerdings, mit denen die Griechen gerne tauschen würden.

* Aus: neues deutschland, 18. Februar 2012


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