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Aneignung – eine Gegenstrategie

In der Krise 2001/2002 wurden in Argentinien weit über 100 Fabriken von den Arbeitern besetzt und übernommen. Viele von ihnen betreiben neben der Produktion soziale Projekte.

Von Lisa Groß *

Mit ihren sozialen und kulturellen Projekten geben die Fábricas Recuperadas (Besetzten Fabriken) in Argentinien dem Wertewandel einen neuen Anstoß – wie zum Beispiel mit der Gründung von Schulen in ihren Fabriken. Ein Besuch in der Schule »Bachillerato de Jovenes y Adultos Madedera Córdoba« der Holzfabrik Maderera Córdoba in Buenos Aires.

Frisches Holz und Sägespäne. Auf den ersten Blick erscheint die Maderera Córdoba wie eine von vielen Holzfabriken in Buenos Aires – es riecht nach frischem Holz, auf dem Gehweg liegen Sägespäne, das Schaufenster quillt über vor Kochlöffeln, Schneidebrettchen, Stühlen und Kisten, im Laden wuseln hilfsbereite Fachkundige, um die Kunden zu bedienen, und aus dem Hinterzimmer quietscht in schrillen Tönen die Holzschneidemaschine. Nichts lässt auf den besonderen Charakter der Maderera Córdoba schließen.

Erst im Gespräch mit dem schelmisch blinzelnden Verkäufer erfährt man, dass die Holzfabrik 2003 von den Arbeitern übernommen wurde. Alle beziehen den gleichen Lohn und die wichtigen Entscheidungen werden auf monatlichen Betriebsversammlungen von der Belegschaft getroffen. Seit 2004 ist in dem Hinterhaus sogar eine Schule untergebracht, in der das Abitur nachgeholt werden kann.

Von der Besetzung zur Legalisierung

Mit ihren 25 Mitarbeitern, dem vollgestopften Laden und der direkt anschließenden Werkhalle ist die Maderera Córdoba einer der kleineren Betriebe unter den insgesamt über 100 Fábricas Recuperadas, in denen zusammengenommen fast 8000 Beschäftigte arbeiten. Fábrica Recuperada bedeutet eigentlich »wiederhergestellte Fabrik«, aber im Deutschen wird das oft der Einfachheit wegen mit »besetzte Fabrik« übersetzt. Entstanden sind die Fábricas Recuperadas in Argentinien während der schweren Wirtschaftskrise ab Ende 2001. Im Laufe der Krise lag die Armutsrate bei 57 Prozent, die Arbeitslosenrate stieg auf 23 Prozent und über 1560 Unternehmen meldeten Konkurs an. Die Eigendynamik, die die Konkurserklärungen in manchen Belegschaften entfachte, kam trotz allem überraschend: Vor die Wahl gestellt, arbeitslos zu sein und die Familie nicht ernähren zu können oder – allen widrigen Umständen zum Trotz – auf eigene Faust mit der Produktion fortzufahren, entschieden sich einige Belegschaften für letzteres. Unter dem Motto »Ocupar, resistir, producir« (besetzen, widersetzen, produzieren) besetzten fast 200 Belegschaften ihren Betrieb.

»Wir hatten ein großes gemeinsames Ziel während der Krise: durch die Weiterführung der Produktion den Arbeitsplatz zu erhalten«, erinnert sich einer der Fabrikarbeiter. Die Tatsache, dass gut vier Jahre später immer noch etwa 120 dieser Fabriken ihre Existenz gegen die Marktkonkurrenz verteidigen können, lässt auf den Erfolg dieses Vorhabens schließen. Dennoch produzieren viele der Betriebe unter schwierigen ökonomischen Bedingungen. Da die Lohnauszahlung an erster Stelle steht, fehlt oft das Geld für Investitionen. Die grünlich schimmernden Holzschneidemaschinen in der von Spänen bedeckten Lagerhalle der Maderera Córdoba zeugen von diesem Missstand – sie sind noch aus den 60er Jahren. Da sind Konflikte unter der Belegschaft programmiert.

Ambivalentes Verhältnis zu Kirchner

Die Mitte-Links-Regierung unter Präsident Néstor Kirchner verhält sich in Bezug auf eine Unterstützung der Fábricas Recuperadas zwiespältig. Präsident Kirchner und die Stadt Buenos Aires suchen zwar mit kleinen rhetorischen Schmeicheleien bewusst die Nähe zu den sozialen Bewegungen, um durch ein Einbinden in die klientelistischen Strukturen der argentinischen Politik das gesellschaftliche Konfliktpotenzial abzumildern. Aber über eine punktuelle finanzielle Unterstützung geht die Hilfe nicht hinaus. Auf Forderungen nach kontinuierlicher Unterstützung in Form von Steuererlassen oder niedrigeren Strom-, Wasser- oder Gaspreisen geht die Politik nicht ein, genauso wie die Unterstützung beim Kampf um die Legalisierung der Betriebe ausblieb.

Trotz der widrigen Umstände ist es den Arbeitenden in der Holzfabrik Maderera Córdoba gelungen, solidarische Arbeitsbeziehungen zu entwickeln und die Neuordnung der Arbeitsverhältnisse anzustoßen. Dass die Fabrik nun den Arbeitenden gehört, stellt das Verhältnis von Kapital und Arbeit auf den Kopf – oder auch vom Kopf auf die Füße – und erforderte eine Neustrukturierung, in die die gesamte Belegschaft einbezogen wurde. Bei allen Überlegungen spielten Ideale wie Solidarität, Gerechtigkeit und Partizipation eine entscheidende Rolle. »Eine der wichtigsten Veränderungen ist, dass wir uns nun gegenseitig helfen. Der Kollege ist kein Konkurrent mehr, sondern jemand, der mir hilft. Er ist ein wahrhaftiger Kollege – und das ist das, was wichtig ist«, beschreibt der Verkäufer im Laden der Maderera Córdoba die Veränderungen, die mit der Besetzung der Fabrik einhergingen.

Knotenpunkte der Kommunikation

Die meisten Fábricas Récuperadas sind darüber hinaus eng verbunden mit der direkten Nachbarschaft, wie auch mit anderen sozialen Bewegungen. So etwa mit den Arbeitslosenbewegungen oder den Stadtteilversammlungen, die ebenfalls während der Wirtschaftskrise zu wichtigen politischen Größen heranwuchsen. »Die Fábricas Recuperadas stellen so etwas wie einen Knotenpunkt der Kommunikation zwischen Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten dar. Unserem Projekt wurde in der Bevölkerung große Solidarität entgegengebracht und es gab bei vielen Intellektuellen, Künstlern, Professoren, Studenten oder Medienmachern in Buenos Aires das Interesse, einen Beitrag zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu leisten«, versucht ein Arbeiter die Fábricas Recuperadas einzuordnen.

In manchen Betrieben gibt es Bibliotheken, in anderen Gesundheitszentren, in der Madedera Córdoba, bei IMPA, Provincia und Chilavert wiederum Schulen. In den Fabriken IMPA, Chilavert, Patricios und Zanón wurden sogar Kulturzentren eingerichtet, in denen regelmäßig Kurse zu Kunst, Musik oder Literatur angeboten werden.

Ein anderes Lernen ist möglich! Um in die drei Unterrichtsräume im Hinterhaus der Maderera Córdoba zu kommen, muss man erst einmal einen mit Stundenplänen, Dienstzeiten und Demonstrationsfotos zugehängten Gang entlanggehen. Jeden Tag werden hier fünf Stunden lang 100 Schüler unterrichtet. Die Heterogenität der Lernenden ist groß, sie reicht von 17- bis 60-Jährigen, von den Arbeitenden der Fabrik über Mütter aus der Nachbarschaft bis zu Jugendlichen, die auf der Straße leben. Das Projekt fängt die Marginalisierten der Gesellschaft auf, die sonst keinen Zugang zu einer höheren Bildung erhalten würden – ein Pionierprojekt, was die Etablierung eines zweiten Bildungsweges in Argentinien angeht.

»In den öffentlichen Schulen wurde ich immer schief angeschaut. Da wollte niemand mit mir etwas zu tun haben und die Lehrer haben mich diskriminiert – hier ist das anders. Hier habe ich mehr Lust, etwas zu lernen«, erklärt einer der jüngeren Schüler. Die Schulen der Fábricas Recuperadas unterscheiden sich aber nicht nur in dieser Hinsicht von den öffentlichen Schulen Argentiniens – auch der Unterricht verläuft partizipativer. Es gibt immer zwei Lehrer pro Unterrichtseinheit, die Schüler werden in die Gestaltung des Unterrichtes einbezogen und wichtige Dinge werden jeden Freitag auf einer Art Vollversammlung geregelt. »Wir sehen die Schule als einen Raum der Bildung, aber auch als einen politischen Raum. Diese Schule ist Teil des politischen Projektes der Transformation der Gesellschaft – uns geht es um die gemeinschaftliche Konstruktion der Schule«, erklären die Koordinatoren des Projektes Fernando Lazaro und Ezequiel Alfieri aus der Lehrervereinigung »Cooperativa de Educación y Investigación Social«. Die beiden koordinieren die Schulen der Fábricas Recuperadas und zudem noch sieben weitere Schulprojekte der Lehrervereinigung. Wie alle anderen 200 Lehrerinnen und Lehrer des Projektes arbeiten die zwei ehrenamtlich – Fernando ist eigentlich Direktor eines öffentlichen Gymnasiums in Buenos Aires, Ezequiel Geschichtslehrer an einem anderen Gymnasium. »Der Vorschlag, Schulen in die Fabriken zu integrieren, kam von unserer Lehrervereinigung. Die Dachorganisation der Fábricas Recuperadas, die MNER, hat ihn zustimmend aufgenommen und uns in der Maderera Córdoba ein Koordinationsbüro eingerichtet«, beschreibt Fernando den Entstehungsprozess der Schulen in den Fabriken.

Nur der Schulbehörde und den Bildungsministerien sind die Schulen ein Dorn im Auge. Die Lehrervereinigung muss immer wieder mit dem Bildungsministerium um die offizielle Anerkennung der Abschlüsse kämpfen. Mindestens einmal im Jahr gehen sie mit ihren insgesamt 900 Schülern auf die Straße, um für die Anerkennung zu demonstrieren – bisher mit Erfolg. Die Fábricas Recuperadas sind also weit mehr als lediglich gemeinschaftlich organisierte Produktionsstätten. Sie haben es geschafft, von einer breiten gesellschaftlichen Schicht unterstützt zu werden und gleichzeitig in der Linken Inspiration und Motivation für neue soziale Projekte zu sein – in Argentinien gelten sie zu Recht als handfester Beweis für die Forderung: »Ein anderes Leben ist möglich!«

* Aus: Neues Deutschland, 19. Juli 2007


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