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Eine Gegenmacht von unten

Dokumentarfilm über soziale Projekte von Piqueteros in Argentinien

Von Andreas Knobloch

Seit 1996 machen sich die Piqueteros mit ihren Straßenblockaden für die Rechte der Erwerbslosen in Argentinien stark. Ein Dokumentarfilm widmet sich nun besonders der Bewegung zur territorialen Befreiung (MTL), die für ihre sozialen Projekte viel Anerkennung erhält.

Einer größeren Öffentlichkeit hierzulande bekannt wurden die argentinischen Piqueteros erst während der sozialen Unruhen Ende 2001. Kurz vor dem Rücktritt des Präsidenten Fernando de la Rúa machten die Bilder von Straßenblockaden weltweit die Runde. Entstanden ist die Erwerbslosenbewegung 1996 in der Stadt Cutralcó im Süden Argentiniens, wo Arbeitslose Überlandstraßen blockierten, um gegen die Schließung und Rationalisierung bei Repsol YPF, einem großen spanisch-argentinischen Ölkonzern, zu protestieren.

»Piqueteros« bezeichnet Demonstranten, die durch Straßen- und Firmenblockaden auf ihre schlechte wirtschaftliche Situation aufmerksam machen wollen. Dies geschieht in Form von sogenannten »Piquetes« – illegalen Straßenblockaden. Wörtlich übersetzt bedeutet Piquete Streikposten. Die Bewegung weitete sich schnell aus: Schon 1997 gab es über 140 »Piquetes« und im bewegtesten Jahr 2002 sogar über 2300 Straßenblockaden. Vor allem zur Zeit des Aufstandes mit den Kochtopfdemonstrationen (Cacerolazos) auf dem Höhepunkt der Krise 2001/2002 erfuhren die Piqueteros eine große Solidarität von Seiten der Mittelschichtsdemonstranten, die sich in der Parole »Piquete y cacerola – la lucha es una sola« (Straßenblockade und Kochtopf – der Kampf ist derselbe) manifestierte. Mit den cacerolazos verschwand jedoch auch das Verständnis für den Protest der Piqueteros, heute erfahren sie viel Kritik aus der Mittelschicht, vor allem, weil die Straßenblockaden und Demonstrationen den Verkehr behindern.

Auch von den ursprünglichen Zielen der Parteienunabhängigkeit und direkten Demokratie ist heute kaum noch etwas übrig geblieben. Waren die Piqueteros in ihrer Anfangszeit lose Gruppierungen von Arbeitslosen, sind sie heute weitgehend organisiert und zu einem Großteil von politischen Parteien abhängig. Viele Piquetero-Gruppen sind inzwischen in der Hand insbesondere sozialistischer und kommunistischer Parteien. Oder die linken Parteien haben ihre eigenen Piquetero-Organisationen gegründet. So auch das Movimiento Territorial de la Liberación (Bewegung zur territorialen Befreiung) von der Partido Comunista (PC). Das MTL wurde während einer Delegationsreise Ende 2005 für die Dokumentation »Der Aufbau der Gegenmacht aus dem Alltäglichen« porträtiert.

Der Film stellt verschiedene politisch-soziale Projekte der MTL und ihre Protagonisten vor: ein Wohnungsbauprojekt in Buenos Aires, die Übernahme einer stillgelegten Salzmine durch die Arbeiter und Arbeiterinnen im Norden des Landes, ein Frauenzentrum, in dem versucht wird, arbeitslosen, ausgegrenzten Frauen eine Perspektive zu eröffnen, eine Antidrogen- und Reintegrationseinrichtung auf einem ehemaligen Bauernhof und ein Projekt zur Verteilung von Milch an bedürftige Kinder und ihre Familien. Die interviewten Aktivisten schildern ihre Lebensbedingungen und ihre Motivation, bei der MTL mitzuwirken. Immer wieder wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, bei der Errichtung einer anderen, gerechteren Gesellschaft mitzuhelfen. Viele Migranten aus anderen Ländern Lateinamerikas sind in das MTL integriert. Die in den Projekten des MTL Beschäftigten bekommen einen garantierten Mindestlohn; bei den Wohnprojekten haben sie überdies das Recht, selbst eine der entstandenen Wohnungen zu beziehen und zu günstigen Konditionen abzubezahlen.

Dass die Piquetero-Organisationen zumeist mittels staatlicher Sozialpläne finanziert werden und die Arbeit nicht selten Gegenleistung für staatliche Sozialhilfe ist, erwähnt der Film jedoch nicht. In einigen Fällen gehört zu den Anforderungen an die Mitglieder der Piquetero-Organisationen auch die Teilnahme an den Demonstrationen.

Trotzdem gibt der mit einer Handkamera gedrehte Film einen anschaulichen Querschnitt des MTL und der von ihm initiierten Projekte und ist vor allem Leuten, die sich für die sozialen Kämpfe in Argentinien interessieren, zu empfehlen.

Der Aufbau der Gegenmacht aus dem Alltäglichen. Das MTL-Projekt in Argentinien. Deutschland 2006. Regie: Roland Wanitschka, Länge: 38 Minuten, Dokumentarfilm.
Kontakt: roland.wanitschka@web.de

* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2007


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