Argentinien: Wie das Steak auf den Grill kommt. Und wer es verdaut
Vom Schlachten einer Volkswirtschaft. Von Dieter Boris*
Den folgenden Beitrag von Dieter Boris haben wir der Schweizer Wochenzeitung WoZ entnommen. Wir dokumentieren ihn mit einigen Kürzungen.
                    Seit Weihnachten letzten Jahres befindet sich
Argentinien in einer
                    extremen Krisensituation. Auch wenn die Nachrichten
in Europa und den
                    USA darüber seltener geworden sind, ist keinerlei
Besserung eingetreten –
                    und für die Zukunft nicht absehbar. So fiel die
Industrieproduktion in den
                    ersten Monaten des Jahres 2002 um weitere zwanzig
Prozent gegenüber
                    den Vorjahreswerten. Die Arbeitslosenquote liegt im
Landesdurchschnitt
                    offiziell bei 25 Prozent. Die Inflationsrate steigt
an, im Grossraum Buenos
                    Aires leben 40 bis 50 Prozent der EinwohnerInnen in
Armut. Es wird
                    erwartet, dass das Bruttoinlandprodukt im Jahr 2002
um acht bis fünfzehn
                    Prozent schrumpft. Der freie Fall nach unten ist
immer noch nicht
                    gestoppt. ...
                    
                    In den vergangenen Wochen haben sich die Proteste
intensiviert, auch weil
                    in der zweiten Aprilhälfte alle Banken für zehn Tage
geschlossen hatten.
                    Aus La Plata, San Juan, Córdoba und anderen Städten
werden Proteste
                    von Staatsbediensteten gemeldet, die Entlassungen
oder weitere
                    Kürzungen ihrer Gehälter verhindern wollen. Die
kämpferischen Teile der
                    Gewerkschaften, Organisationen von Arbeitslosen
(darunter vor allem die
                    so genannten Piqueteros) und Stadtteilkomitees rufen
weiterhin zu
                    Demonstrationen und Streiks auf.
                    Boomphase und plötzlicher Absturz
        
                   ... Es scheint klar,
dass ein solch
                    krasser Absturz vielfältige, strukturelle und auch
länger zurückliegende
                    Ursachen haben muss. In der europäischen Diskussion, aber auch in
Lateinamerika selbst werden
                    dafür oft Faktoren genannt und isoliert
hervorgehoben, die für eine
                    vernünftige Erklärung kaum ausreichen. Die Rede ist
von der Korruption der
                    nationalen Regierungen, der Unfähigkeit der
PolitikerInnen, den
                    Haushaltsdefiziten aufgrund mangelnder Sparsamkeit,
der exzessiven
                    Ausgabenpolitik der Provinzen, dem allzu langen
Festhalten an der
                    Bindung des argentinischen Pesos an den US-Dollar
(wodurch sich die
                    Konkurrenzfähigkeit argentinischer Waren auf dem
Weltmarkt verringerte)
                    und natürlich der zu hohen Aussenverschuldung. Dies
mögen im Einzelnen
                    wichtige Faktoren sein, sie treffen aber nicht den
Kern des Problems. Das
                    argentinische Drama scheint vielmehr durch
mindestens drei grössere
                    Aspekte gekennzeichnet, die in zeitlicher Abfolge
stehen: die
                    wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
nach dem Zweiten
                    Weltkrieg, die neoliberale Ära unter Staatspräsident
Carlos Menem
                    (1989–1999) und schliesslich die aktuelle
Rezessionsphase und die
                    wirtschaftspolitische Reaktion darauf (seit 1998).
                    
                    Aufgrund seiner natürlichen Vorteile im agrar- und
viehwirtschaftlichen
                    Bereich (Weizen, Fleisch) hat sich in Argentinien
der Übergang zu einem
                    breitenwirksamen, industriell orientierten
Kapitalismus, der auch in dieser
                    Hinsicht exportfähig ist, praktisch nicht vollzogen.
Die gleichzeitig sehr
                    starke Gewerkschaftsbewegung konnte überdies eine
gewisse
                    Blockademacht entfalten, die häufig zu politischen
und ökonomischen
                    Pattsituationen führte, welche wiederum mit
periodischen
                    Militärinterventionen «aufgelöst» wurden. Notorische
Charakteristika des
                    argentinischen Kapitalismus zwischen 1945 und dem
Ende der achtziger
                    Jahre waren eine geringe Investitionsquote,
niedriges
                    Akkumulationstempo, hohe Inflationsraten, zeitweise
                    Hyperinflationsphasen und heftige Verteilungskämpfe.
                    
                    Mit der ersten Wahl des Peronisten Carlos Menem zum
Präsidenten 1989
                    setzte – entgegen seinen programmatischen
Ankündigungen und der
                    peronistischen Tradition – das neoliberale Zeitalter
ein. Menem
                    liberalisierte das Preissystem, betrieb die rasche
Aussenöffnung der
                    Wirtschaft und begann, die Arbeitsgesetze zu
flexibilisieren. Mit seiner
                    Politik der Schuldenexpansion und seiner
finanzkapitalistischen
                    Akzentuierung setzte Menem in gewisser Hinsicht die
Wirtschaftspolitik
                    der Militärdiktatur (1976–1983) fort. Eine wichtige
personelle Klammer
                    bildete hierbei Domingo Cavallo, der unter den
Militärs für kurze Zeit bereits
                    Zentralbankpräsident gewesen war und ab 1991 in
Menems Kabinett als
                    Wirtschafts- und Finanzminister diente. Cavallo
setzte die feste Bindung
                    des argentinischen Peso an den US-Dollar durch und
betrieb eine rasche
                    und umfassende Privatisierung staatlicher
Unternehmen. Sozialstaatliche
                    Elemente (Gesundheitsversorgung, Erziehungssystem,
                    Sozialversicherungen) wurden in privatwirtschaftlich
handelbare Waren
                    umgewandelt, dadurch verstärkte sich die neoliberale
Linie wesentlich.
                    Diese Wirtschaftspolitik schien zunächst
ausserordentlich erfolgreich.
                    Menem erntete grosses Lob und fand Anerkennung im
In- und Ausland (vor
                    allem bei den USA und dem Internationalen
Währungsfonds IWF). Die
                    argentinische Hyperinflation wurde mit dem von
Cavallo erlassenen
                    Konvertibilitätsgesetz zunächst wirksam bekämpft.
Die Wachstumsraten
                    betrugen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre
acht bis neun Prozent –
                    so viel wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sogar die
Verschuldung konnte
                    zeitweise durch den Verkauf von Staatsunternehmen an
ausländische
                    Kapitaleigner reduziert werden. ...
                    
                    Aber die Schattenseiten des neoliberalen Modells
deuteten sich Mitte der
                    neunziger Jahre bereits an. Durch die harte
Rationalisierungspolitik des
                    Staats und des ausländischen Kapitals sowie die
mexikanische
                    «Peso-Krise» stieg die Arbeitslosigkeit erstmals auf
für argentinische
                    Verhältnisse unglaubliche vierzehn Prozent. In der
zweiten Hälfte der
                    neunziger Jahre wurden die negativen Aspekte der
neoliberalen Politik
                    immer deutlicher sichtbar. Dem sukzessiven Verfall
der durchschnittlichen
                    Reallöhne entsprachen ein Anstieg der
Arbeitslosigkeit und die rapide
                    Erhöhung der Armutsquote. Der industrielle Sektor
ging weiter zurück, die
                    Aussenverschuldung stieg steil an. Von zentraler
Bedeutung für die
                    weiteren Mechanismen der aufkommenden Krise in
Argentinien war der
                    Umstand, dass die überwiegend an ausländisches
Kapital veräusserten
                    Staatsunternehmen im Dienstleistungssektor tätig
waren (Banken,
                    Fluglinien, Telekommunikation, Elektrizität, Häfen).
                    
                    Diese Unternehmen erwirtschafteten ihre Einnahmen in
argentinischen
                    Pesos, mussten aber nach ihrem Verkauf die
Überweisungen an ihre
                    Mutterfirmen beziehungsweise ausländischen
Kreditgeber in harten
                    Devisen, sprich US-Dollars, vornehmen. Der
argentinische Staat wurde
                    genötigt, die von ausländischen
Dienstleistungsunternehmen
                    beanspruchten Devisen aus den Dollarreserven der
Zentralbank zu
                    bestreiten. Dazu musste er die Auslandskredite und
Staatsanleihen
                    aufstocken. Dies geschah ab 1997/98 zu immer
schlechteren
                    Zinskonditionen. Vor der Begleichung des Zinsen- und
Tilgungsdienstes für
                    die Kredite und Staatsanleihen aus dem Ausland wies
der argentinische
                    Staatshaushalt bis in das Jahr 2000 hinein sogar
noch positive Zahlen aus.
                    Das Defizit resultierte ausschliesslich aus den
Transferzahlungen, die eine
                    Konsequenz des starken Auslandskapitalanteils in den
Sektoren des
                    Dienstleistungsbereichs darstellten.
                    Rezession, Zinslast und IWF-Politik
        
                    Der Zwang, immer neue Kredite und Anleihen zu immer
schlechteren
                    Bedingungen im Ausland aufnehmen zu müssen, führte
vor dem
                    Hintergrund der durch das neoliberale Modell
charakterisierten
                    Schwächemomente der argentinischen Ökonomie
(fortschreitende
                    Deindustrialisierung, sozioökonomische
Polarisierung, Aussaugung des
                    Staatshaushaltes durch ausländische Zins- und
Kapitalforderungen) dazu,
                    dass die Zinslastspirale weiter stark anstieg und
schliesslich das Land in
                    eine ausweglose Situation manövrierte. Zu diesen
schon sehr schwierigen
                    Ausgangsbedingungen kam im Herbst 1998 die Rezession
hinzu.
                    Sie wurde wiederum durch die Abwertung der Währung
des Nachbarlandes
                    Brasilien, die Auswirkungen der Asienkrise und durch
die zu lange
                    Aufrechterhaltung des CurrencyBoard-Systems (der
festen Bindung des
                    Peso an den US-Dollar) vertieft. Der IWF segnete die
prozyklische
                    Austeritätspolitik der argentinischen Regierungen ab
(Kürzungen des
                    Staatshaushalts, der Ausgaben für Staatsbedienstete
und der Renten) und
                    sorgte mit den verschiedenen Kreditpaketen
gewissermassen für eine
                    lange Dauer der Rezession.
                    
                    Als dann der IWF von dieser katastrophalen Politik
und der ebenfalls
                    prozyklischen Wirtschaftspolitik des
Menem-Nachfolgers Fernando de la
                    Rúa (von der Radikalen Partei) plötzlich Abstand
nahm und Anfang
                    Dezember 2001 eine zugesagte Tranche nicht mehr
auszahlte, stürzte die
                    argentinische Ökonomie in den Abgrund. Der
eingeschränkte Zugang zu
                    den Banken und Privatkonten verstärkt die politische
Krise noch. In dieser
                    Situation brachen kurz vor Weihnachten jene Unruhen
aus, die dann das
                    berühmte Präsidentenkarussell (fünf Präsidenten
innerhalb von zehn
                    Tagen) in Gang setzte. Mit der Etablierung des
Peronisten Eduardo
                    Duhalde wurde Anfang dieses Jahres ein neuer
Präsident installiert, der
                    kaum über eine politische Legitimität verfügt. Er
kann sich im Parlament
                    allerdings auf die Mehrheitsfraktion der Peronisten
und teilweise auch auf
                    die Radikale Partei stützen.
                   
                    Die Einstellung des Schuldendienstes und die
Abwertung des Peso im
                    Verhältnis eins zu drei zum US-Dollar waren die
ersten Massnahmen der
                    neuen Regierung. Der schwache Präsident versucht
seither, zwischen den
                    Interessen der Gläubiger und der Schuldner, den
inländischen
                    Bedürfnissen und den Ansprüchen ausländischer
Kapitaleigner, zwischen
                    den Postulaten des IWF und den unmittelbaren
Bedürfnissen breiter
                    Volksgruppen zu lavieren. Das ist ein Balanceakt,
der natürlich nicht gut
                    gehen kann und irgendwann in die eine oder andere
Richtung ausschlagen
                    muss. Nach Lage der Dinge können Krisen in
kapitalistischen
                    Gesellschaften im Wesentlichen nicht auf Kosten der
Kapitaleigner gelöst
                    werden. Sie werden in der Regel von jenen getragen,
denen die geringste
                    Verantwortung dafür zukommt: der Masse der
Bevölkerung.
                    Nach wochenlangen Verhandlungen zwischen der
Regierung Duhalde und
                    dem IWF scheiterte Mitte April eine Übereinkunft.
Der IWF betrachtet die
                    Sparanstrengungen im zentralen Haushalt als nicht
genug weit gehend. Es
                    geht darum, die Defizite in den Provinzhaushalten um
sechzig Prozent zu
                    reduzieren, die Banken zu sanieren (überwiegend auf
Kosten der
                    SparerInnen) sowie den Pesokurs gegenüber dem
US-Dollar zu
                    flexibilisieren. Den Forderungen des IWF war
Argentinien zwar
                    entgegengekommen, in manchen Punkten blieb die
Position der Regierung
                    Duhalde jedoch unbeweglich. Duhalde fürchtet eine
noch grössere soziale
                    Polarisierung und innenpolitische Erosion.
                    Intervention statt Austeritätspolitik 
        
                    Als Duhaldes Wirtschaftsminister Jorge Remes Lenicov
im April mit leeren
                    Händen aus Washington zurückkam, wurden die Banken
vorübergehend
                    geschlossen, um einen Ansturm der AnlegerInnen
abzuwenden. Nachdem
                    die Gesetzesvorlage scheiterte, wonach den
SparerInnen der – zuvor
                    gerichtlich eingeklagte – Zugang zu ihren Konten
erschwert bleiben sollte,
                    trat Lenicov zurück. Auch Präsident Duhalde schien
sein Amt zur
                    Disposition stellen zu wollen. Überraschenderweise
kam es am darauf
                    folgenden Tag nach einer Mammutsitzung zwischen
Regierungsvertretern
                    und sechzehn der mächtigsten Provinzgouverneure zur
Verabschiedung
                    eines 14-Punkte-Plans, der tags darauf auch als
Gesetz verabschiedet
                    wurde. Dies sowie die Ernennung Roberto Lavagnas zum
neuen
                    Wirtschaftsminister sind weitere Schritte zur
Erfüllung der vom IWF
                    geforderten Reformen. Allerdings bleiben einige
Punkte – wie die von den
                    Provinzen ausgegebenen Parallelwährungen und die
Steuerung des
                    Peso-Aussenwerts durch die Regierung – umstritten.
        
                    Vor allem bleibt aber unklar, wie ein
austeritätspolitischer Kurs ohne aktive
                    Intervention des Staats in den Wirtschaftsprozess
dynamische Kräfte
                    freisetzen soll. Duhaldes Regierung hat kein
Konzept, die Binnennachfrage
                    anzukurbeln oder produktive Investitionen bei
kleineren und mittleren
                    Betrieben anzuregen. Auch die Steigerung bei den
Exporten dürfte sich in
                    engen Grenzen halten. Und die restriktive Linie
bezüglich der
                    Staatsausgaben kann gleichfalls nicht als ein
positives Signal für die
                    Konjunktur betrachtet werden.
                
                    Die Zurückdrängung von Korruption und Verschwendung
öffentlicher
                    Ressourcen und die Effizienzsteigerung der
Verwaltung mag relevant sein;
                    damit allein wird die tief zerrüttete argentinische
Ökonomie aber nicht in
                    eine normale Gangart kommen. Auch wenn der IWF
wenigstens einen Teil
                    des erbetenen Notkredits in Höhe von neun Milliarden
US-Dollar einräumen
                    sollte, stellt sich die Frage, was damit geschehen
soll. Die Auffüllung der
                    Devisenreserven, die Sanierung der Banken, die
Befriedigung
                    ausländischer und inländischer Kreditgeberinteressen
(auch der der
                    StaatspapierbesitzerInnen) können davon nicht einmal
ansatzweise
                    bestritten werden. Der Betrag reicht auch nicht aus,
um das Vertrauen der
                    normalen BankkundInnen zurückzugewinnen.
                    
                    Das Einzige, was in der allseits blockierten
Situation wenigstens
                    kurzfristig die Ökonomie in Gang bringen könnte,
wäre ein massives
                    öffentlich gestütztes Beschäftigungs- und
Investitionsprogramm. Dieses
                    müsste vor allem auch kleine und mittlere
Unternehmen einbeziehen und
                    die Liquidität von privaten Haushalten, Unternehmen
und Banken
                    verbessern. Die Gefahr einer gewissen
Inflationierung müsste in Kauf
                    genommen werden, ohne deswegen auf Massnahmen einer
frühzeitigen
                    Gegensteuerung zu verzichten. Die Unterstützung
eines solchen Kurses
                    durch den IWF ist sicherlich ausserhalb jeder noch
so kühnen Vorstellung
                    und käme einem weitreichenden Kurswechsel gleich.
Kurzfristig wäre es
                    aber der einzig mögliche Ausweg, da alle angebots-
und
                    austeritätspolitischen Versuche gescheitert sind und
die «sozialen
                    Kosten» weiter in die Höhe treiben. Wahrscheinlicher
ist jedoch, dass die
                    Regierung Duhalde in Kürze ein an die Forderungen
des IWF vollständig
                    angepasstes Abkommen unterzeichnet. Eine Zunahme der
sozialen
                    Protestbewegung und eine weitere Chaotisierung der
argentinischen Politik
                    sind dann zu erwarten.
Dr. Dieter Boris ist Professor für Soziologie an der Universität Marburg; Arbeitsschwerpunkte: Entwicklungssoziologie und Lateinamerika. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas. Der Kontinent in der Weltwirtschaft des 20. Jahrhunderts", VSA-Verlag, Hamburg 2000.
Aus: WoZ, 13. Juni 2002
  
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