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Neoliberaler Extremismus

Wirtschaftspolitische Thesen zur Argentinien-Krise. Von Dieter Boris*

* Dieter Boris ist Professor für Soziologie der Entwicklungsländer an der Universität Marburg und einer der besten Kenner Lateinamerikas.

1. Die tiefe ökonomische Krise und die schweren sozialen Auseinandersetzungen sind Resultat einer längeren Fehlentwicklung, die viele Ursachen (und Verantwortliche) auf verschiedenen Ebenen hat: interne ­ externe; ökonomische ­ politische; langfristig strukturelle versus kurzfristig konjunkturelle.

2. Alle Versuche der Erklärung, die sich auf ein oder zwei Elemente als Hauptursache beziehen, greifen in der Regel zu kurz: Korruption, Unfähigkeit der Politiker etc. Das Währungsregime des »currency-board«, das den argentinischen Peso an den US-Dollar (im Verhältnis 1:1) bindet und eine Vermehrung der einheimischen Geldmenge von dem Vorhandensein von US-Devisenreserven abhängig macht, hatte zunächst (vor zehn Jahren) positive Wirkungen: wirksamer Kampf gegen die Hyperinflation, Bereitschaft zur Geldkapitalanlage etc. Dann wurde das Korsett zu eng, einige wichtige Organe der Lebensökonomie des Landes wurden gewissermaßen gequetscht und funktionsunfähig. Aber auch das »currency-board-System« allein kann nicht für das gegenwärtige Desaster verantwortlich gemacht werden. Die öffentliche Außenverschuldung von zirka 140 Milliarden US-Dollar (d.h. in Höhe von rund 50 bis 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ­ BIP) ist für sich genommen ebenfalls keineswegs aufregend (in Europa gibt es höhere Verschuldungsquoten); ebensowenig kann das Haushaltsdefizit von zirka zwei Prozent des BIP in den letzten Jahren ­ für sich genommen ­ als dramatisch bezeichnet werden.

3. Es ist die spezifische Konfiguration verschiedener Faktoren, die das jetzt sichtbar gewordene explosive Gemisch hervorgebracht hat: die Außenverschuldung (und die entsprechend ansteigenden Zinslasten), das starre Währungsregime und die wachsende Abhängigkeit von weiteren externen Kapitalzuflüssen. Diese Kombination hat
a) die seit Mitte 1998 einsetzende Rezession enorm verlängert (ein Ende ist auch für 2002 noch nicht absehbar),
b) die streng restriktive Haushalts- und Fiskalpolitik (scharfer Sparkurs seit 1998/99) hervorgebracht und
c) den Internationalen Währungsfonds veranlaßt, diese Konstellation jahrelang (bis Anfang Dezember 2001) affirmativ-belobigend durch große Unterstützungskredite abzusichern (zuletzt Weihnachten 2000 fast 40 Milliarden US-Dollar).

4. Die Verlängerung der Rezession wiederum war durch verschiedene Faktoren bedingt, die zum Teil Elemente des wirtschaftspolitischen Leitmodells gewesen sind: Durch die Aufwertung des Dollars bzw. des Peso infolge der langanhaltenden US-Konjunktur hat sich die Exportsituation Argentiniens klar verschlechtert; dies wurde noch zugespitzt durch die Abwertung des Euro und des brasilianischen Real. Das bedeutete u.a. eine enorme Importschwemme, Abwanderung ausländischer Produzenten nach Brasilien und einen weiteren Beitrag zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit, die schon seit Mitte der 90er Jahre infolge der radikalen Öffnungspolitik auf historisch noch nie dagewesene 16 bis 18 Prozent hochgeschnellt war. Die enorme interne Einkommens- und Vermögenspolarisierung, der Reallohnverfall sowie der rapide Verarmungsprozeß von mehr als einem Drittel der Bevölkerung haben ebenso wie das hohe Preisniveau im Lande die Rezession weiter verlängert.

5. Die staatliche Haushalts- und Fiskalpolitik, die nur auf Einsparung setzte, um die ausländischen Kapitalanleger »vertrauensvoll« und »optimistisch« zu stimmen, war für die Binnenkonjunktur verhängnisvoll und kontraproduktiv und hat die sozialen Explosionselemente zusätzlich angefacht. Der fanatisch-orthodoxe Austeritäts- und Stabilisierungskurs der Politiker über verschiedene Parteiencouleurs hinweg zeigt, wie sehr die Bodenhaftung dieser »politischen Klasse« in Verfolgung eines wirtschaftspolitischen Leitbildes verloren gegangen war.

6. Das gleiche gilt für die hochkarätigen Ökonomen und Technokraten des IWF, die seit Etablierung dieses neoliberalen Modells (1991) Argentinien mit Lobeshymnen und Kredithilfen überschüttet haben. Dabei ging es ihnen fast ausschließlich darum, die hohe Außenzentrierung der argentinischen Wirtschaftspolitik auszubauen, den Geldwert zu stabilisieren, die Schuldendienstfähigkeit aufrechtzuerhalten sowie eine gläubiger- und anlegerfreundliche Grundstimmung zu garantieren.

7. Bemerkenswert ist, daß die jetzt gerade von der Regierung vertriebene Radikale Partei (UCR) des Präsidenten de la Rua nur die Politik konsequent und orthodox fortführte, die die Peronisten unter dem früheren Präsidenten Carlos Menem (1989 bis 1999) begonnen hatten. Allerdings sind die beiden Hauptparteien Argentiniens intern von großen Gegensätzen bestimmt. Linke Alternativen im gewerkschaftlichen, parteipolitischen und sonstigen zivilgesellschaftlichen Bereich sind ziemlich schwach und wenig koordiniert, wenngleich sie in den letzten Monaten an Einfluß gewannen; so konnte bei den Oktoberwahlen zur Legislative 2001 ein knappes Dutzend sozialistischer, kommunistischer und trotzkistischer Kandidaten ein Abgeordnetenmandat erringen.

8. Mit dieser neoliberalen Orientierung war eine stärkere Außenzentrierung der argentinischen Ökonomie, eine bis dahin nicht gekannte interne sozioökonomische Polarisierung sowie ein Abbau von öffentlichen Institutionen (Altersversicherung, Gesundheit, Bildung) verbunden. Die Arbeitslosigkeit stieg im Vergleich zum Beginn der 70er Jahre »von drei auf 20 Prozent..., die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wuchs von 200.000 auf fünf Millionen, die der unterhalb der Armutsgrenze Lebenden von einer Millionen auf 14 Millionen, und die Analphabetenquote stieg von zwei auf zehn Prozent, der funktionale Analphabetismus von fünf auf 32 Prozent. Die Vermögen führender Politiker, Gewerkschafter und Großunternehmer, die in diesem Zeitraum ins Ausland verschoben wurden, werden auf 120 Milliarden US-Dollar geschätzt. Argentinien als Musterschüler des Neoliberalismus stellt demnach ein umfassendes Schulbeispiel dar ­ im Hinblick auf die verheerenden sozialen Auswirkungen wie im Hinblick auf die unterschlagenen Vermögenswerte.« (Carlos Gabetta). Eine Stimulierung der internen Sparfähigkeit und der produktiven Investitionen wurde gegenüber der Anlockung von Geldkapital und spekulativen Anlagen als sekundär angesehen.

9. Diese ökonomische und wirtschaftspolitische Grundorientierung hat die gesellschaftlichen Verhältnisse in Argentinien während der letzten zehn Jahre stark verändert und zu einem erheblichen Teil zerrüttet. Ausdruck dieser negativen Veränderungen sind u.a. die deutlich gestiegene Selbstmordrate, die erheblich angewachsenen Auswanderungsströme, die exorbitant um sich greifende Gewaltkriminalität (bei den Verkehrsopfern und -toten rangiert Argentinien schon seit längerem auf den vorderen Plätzen in der Welt). So nimmt es nicht wunder, daß diese und andere Symptome gesellschaftlicher Anomie sich nun vor Weihnachten in Plünderungen, Gewaltausbrüchen und anderen Verzweiflungstaten artikulierten.

10. Die Frage, warum eine solche verfehlte allgemeine Politik und Wirtschaftspolitik im besonderen so lange und über die Parteiengrenzen hinweg verfolgt werden konnte, verweist zum einen darauf, daß Kontrollmechanismen und Korrekturmöglichkeiten im argentinischen politischen System nicht wirksam gewesen sind. Zum anderen scheint die These einiger Autoren nicht von der Hand zu weisen zu sein, wonach die herrschende Klasse Argentiniens bzw. das Bürgertum gegenüber der Konstellation in Chile oder Brasilien besondere Charakteristika aufweist: der fehlende Wille und die mangelnde Fähigkeit, allgemeine Einrichtungen und Funktionserfordernisse für das Land insgesamt bzw. für eine »normale« bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft anzustreben und zu realisieren; die geringe Bereitschaft vorhandene Vermögen in produktive Investitionen umzusetzen; die dominante Orientierung am schnellen Gewinn durch Finanztransaktionen einschließlich der fast völligen Verweigerung ihrer Steuerzahlungspflicht etc. scheinen in Argentinien stärker verwurzelt zu sein als etwa in den genannten lateinamerikanischen Nachbarländern.

11. Aus all dem ergibt sich, daß ein Ausweg aus der aktuellen Krise überaus schwierig ist: Kurzfristig muß es darum gehen, die verhängnisvolle Spirale von Deflation ­ Rezession ­ Pauperisierung ­ Austeritätspolitik und »nur nach Außen starren« zu durchbrechen. Mittel- und längerfristig wird es darum gehen, politische Lernprozesse in Richtung auf Bildung minimaler gemeinsamer sozialer Grundbedingungen zu organisieren und die ökonomische und politische Ausrichtung stärker auf die Binnenverhältnisse, die eigenen Potentiale und eine größere Homogenität zwischen den einzelnen Bevölkerungssegmenten zu konzentrieren.

Aus: junge welt, 19. Januar 2002


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