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Mehr Peitsche, weniger Zuckerbrot

Argentinien vor der Präsidentenwahl: Wenig Aussichten auf eine politische Erneuerung

Von Timo Berger, Buenos Aires

Buenos Aires im April 2003: Im Zentrum sieht man frisch gestrichene Häuser und neue Geschäfte, in einigen Straßen wird der Belag ausgewechselt. Die Altstadt ist seit kurzem für den Schwerverkehr gesperrt. Buenos Aires putzt sich heraus und empfiehlt sich den ausländischen Touristen. Die kommen aufgrund des günstigen Wechselkurses immer zahlreicher. Aber auch für die Einheimischen, zumindest für diejenigen, die Geld für teure Eintrittskarten übrig haben, wurde in der Osterwoche ein Spektakel nach dem anderen geboten: Medienwirksame Großereignisse wie die Buchmesse, ein internationales Kinofestival und eine Open-air-Modenschau, ausgerichtet von der Stadtregierung, sollten für Zerstreuung sorgen. Die Kriege toben anderswo, in Buenos Aires geht der Alltag weiter.

Doch der Eindruck täuscht. Kaum bricht die Dunkelheit herein, sieht man im Zentrum und in den Vierteln der Mittel- und Oberschicht unzählige Familien im Müll nach verwertbaren Resten, meist Papier und Karton, aber auch Lebensmitteln, suchen. Die Plaza Congreso wird allabendlich zum Schlafplatz für Obdachlose. Nachtschwärmer trifft man unter der Woche nur noch selten. Bars und Diskotheken sind leer. Ältere bleiben zu Hause, Jugendliche treffen sich vor Kiosken, die die ganze Nacht geöffnet sind, und trinken Bier am Straßenrand. Die Armut in Argentinien ist sichtbarer geworden.

Anders als im Nachbarland Brasilien verspricht in Argentinien kein Präsidentschaftskandidat, den Hunger abzuschaffen, obwohl mittlerweile 21 Millionen Argentinier zu den Armen gezählt werden. Als arm gelten Familien, deren monatliches Einkommen weniger als 800 Peso (rund 267 Euro) beträgt. Sieben Millionen Menschen müssen sogar mit einem Familieneinkommen von weniger als 380 Peso (zirka 127 Euro) leben. Diese Armut führte in den vergangenen Monaten wieder zu verstärkten Protesten der Piqueteros, die mehr staatliche Hilfen für arbeitslose Familienoberhäupter und die Schaffung von Arbeitsplätzen fordern. Die Selbstrepräsentation der Arbeitslosen, die die populistischen Parteien in ihrer traditionellen Vermittlerrolle überflüssig macht, ist den Kandidaten aus dem rechten Spektrum ein Dorn im Auge. Im Falle ihres Wahlsieges versprechen sie die Niederschlagung der neuen sozialen Bewegungen, um die »Ordnung« wiederherzustellen. Wenn die Armen es wagen, ihre Armut selbst zu artikulieren, werden sie in Argentinien kriminalisiert.

Vor zwei Wochen wurde die Hochphase des Wahlkampfes mit Veranstaltungen in den Fußballstadien eingeläutet. Dennoch interessieren sich die Menschen kaum für die Kandidaten und deren Programme. Die Medien beschäftigen sich mit dem Krieg im Irak, mit dem »Chaos«, das angeblich die Proteste der Piqueteros und der Arbeiter der geräumten Fabrik Brukman ausgelöst haben, und dem Mordfall Belsunce, einem Familiendrama, dessen Analyse Sondersendungen und Tageszeitungen füllt. Nur die Schlacht der Wahlplakate erinnert an die bevorstehenden Wahlen. An fast jedem Ampelmast im Stadtzentrum kleben kleine Poster, auf denen »Menem 2003« steht. Die Wahlkampfhelfer des Expräsidenten haben die Stadt zugepflastert. Ab und zu sieht man auch überklebte Plakate. In nachgemachtem Design liest man: »Menem al gobierno, Bush al poder« (Menem an die Regierung, Bush an die Macht).

Auch der zweite Kandidat aus den Reihen der Peronisten, der amtierende Gouverneur der patagonischen Provinz Santa Cruz, Néstor Kirchner, lächelt von vielen Bushaltestellen mit seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, dem ehemaligen Ruderer Daniel Scioli. Andere Kandidaten, wie der dritte Peronist Adolfo Rodriguez Saá, der Rechtsaußen Ricardo López Murphy oder die Mitte-Links-Politikerin Elisa Carrió, verfügen nicht über die finanziellen Mittel für eine vergleichbare Kampagne. Trotzdem hat López Murphy in den Umfragen der vergangenen Wochen von allen Kandidaten am stärksten zugelegt. Ein erster Erfolg einer Medienkampagne. Die rechtskonservative Tageszeitung La Nación, die zweitgrößte Zeitung in Argentinien, hat ihn zu »ihrem« Kandidaten erkoren. Diverse Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erklärten ihre Unterstützung. Einige Institute räumen López Murphy, der noch strikter als Menem ein neoliberales Wirtschaftsprogramm vertritt, Chancen ein, in die Stichwahl zu kommen. Bislang schienen die beiden Spitzenplätze in den Umfragen für Menem und den vom scheidenden Präsidenten Eduardo Duhalde (PJ) unterstützten Kirchner reserviert zu sein.

So ist der Ausgang der Wahl noch völlig offen. Nur zwei Dinge sind gewiß: Es wird zu einer zweiten Runde kommen, da keiner der Kandidaten eine Mehrheit von 50 Prozent oder einen Abstand von 20 Prozent zum Zweitplazierten erreichen wird. Und entgegen der Losung der Proteste der vergangenen 16 Monate »Alle sollen verschwinden« werden alle bleiben, einer sogar als neuer Präsident.

Dieselben Parteien wie eh und je

»Wenn ich an die Wahlen denke, könnte ich verrückt werden«, sagt Guillermo und spricht damit aus, was viele Argentinier dieser Tage denken. Der Taxifahrer aus Buenos Aires kritisiert die Alternativlosigkeit der derzeitigen argentinischen Politik: »Es präsentieren sich diesselben Parteien, die schon seit dreißig Jahren an der Macht sind«. Nichts habe sich verändert, der Volksaufstand im Dezember 2001 spiele bei diesen Wahlen keinerlei Rolle, die Mobilisierung der Bevölkerung habe nichts bewirkt. Es scheint, als setzten die Kandidaten auf die Vergeßlichkeit der Wähler. Carlos Menem trieb in seinen zwei Amtsperioden die neoliberale Umstrukturierung der Wirtschaft des Landes ohne Rücksicht auf Verluste voran, privatisierte die Staatsbetriebe und führte die Dollarparität der Landeswährung ein. Mit der Folge, daß ein Großteil des einheimischen Industrien der internationalen Konkurrenz nicht mehr standhalten konnte. Gleichzeitig stiegen sowohl die Auslandschuld in astronomische Höhen als auch das Ausmaß der staatlichen Korruption.

Menem ist der Kandidat, der die Stimmen der Ärmsten der Armen und derjenigen, die von seiner Wirtschaftspolitik am meisten profitierten, auf sich vereint. Bei den Ärmsten der Armen erzielen die beiden peronistischen Kandidaten Menem und Saá Umfragen zufolge 80 Prozent der Stimmen. Der Meinungsforscher Artemio López erklärt diesen starken Zuspruch zum einen mit dem traditionellen Wahlverhalten der Unterschicht, zum anderen mit deren Sehnsucht nach den Zeiten der Stabilität. Nach Abwertung und Inflation haben die Armen mit den überdurchschnittlich gestiegenen Lebensmittelkosten zu kämpfen. 80 Prozent ihres Einkommens müssen sie inzwischen für ihre tägliche Ernährung ausgeben.

Nichtsdestotrotz hat Menem angekündigt, die Wohlfahrtsprogramme, die unter Duhalde eingeführt wurden, wieder abzuschaffen. Das ist ein Schlag auch gegen die Arbeitslosenorganisationen, die zehn Prozent dieser Hilfen selbstständig verwalten. Menem will statt den umgerechnet 45 Euro für arbeitslose Familienoberhäupter – das monatliche Gnandenbrot, das die amtierende Regierung gewährt –, wieder nach alter peronistischer Manier Lebensmittel an die Armen verteilen lassen. Die Proteste der Piqueteros will er in Zukunft vom Heer niederschlagen lassen, um »Sicherheit« auf den Straßen zu garantieren.

Sich für andere Kandidaten zu begeistern, fällt den Argentiniern schwer – nicht einmal die Theorie des »geringeren Übels« scheint zu funktionieren. Von den sechs Kandidaten, die in den Umfragen auf zwischen zehn und 20 Prozent kommen, löst keiner Enthusiasmus aus. Stammen doch alle aus den zwei argentinischen Mehrheitsparteien: den Peronisten (PJ) und der Radikalen Bürgerunion (UCR), die im letzten halben Jahrhundert die Macht unter sich aufteilten. Unterbrochen wurde ihre Regentschaft nur durch eine Serie immer blutigerer Militärdiktaturen.

Der in Meinungsumfragen bislang leicht führende Kirchner hat es geschafft, Teile des Mitte-Links-Spektrums hinter seiner Kandidatur zu vereinen. Gleichzeitig wird er aber auch von Peronisten der Provinz Buenos Aires unterstützt. Um deren Gunst zu erhalten, hat Kirchner seine Kritik an der Politik des Präsidenten Duhalde zurückgefahren und inzwischen angekündigt, am amtierenden Wirtschaftsminister Roberto Lavagne festhalten zu wollen. Kirchner steht damit für die Kontinuität der scheidenden Regierung, die auf die Unterdrückung der neuen sozialen Bewegungen setzte und zugleich versuchte, den Protesten mit geringen Zugeständnissen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

López Murphy, der sich als »liberale« Alternative zu den Peronisten empfiehlt, war unter Fernando De la Rúa (UCR) zehn Tage Wirtschaftsminister. Damals mußte er aufgrund massiver Demonstrationen der Bevölkerung zurücktreten, die sein rigoroses Sparprogramm nicht mittrug. Als Aspiranten für Ministerposten finden sich in seinem Gefolge drei Berater, die bereits während der Militärdiktatur politische Ämter ausgeübt haben.

Bei den linken Parteien wiederholte sich, was bei der UCR und PJ und dem Mitte-Links-Spektrum passiert war: Sie zerstritten sich untereinander und schafften es nicht, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Zwar gab es eine Serie von Gesprächen im Vorfeld der Wahlen, aber eine Einigung kam nicht zustande. So treten nun zwei Kandidaten an mit der Aussicht auf jeweils drei Prozent der Wählerstimmen: Patricia Walsh für die Vereinigte Linke (IU) und Jorge Altamira für die Arbeiterpartei (PO).

Die Räumung von Brukman

Am Wochenende vor den Wahlen fanden Solidaritätskundgebungen für die in Arbeiterregie betriebene Textilfabrik Brukman statt, und es schien, als sei der Geist des »rebellischen Sommers« zurückgekehrt, jener Monate, die auf den 19./20. Dezember 2001 folgten, in denen sich die argentinische Bevölkerung massenhaft mobilisierte, die Bewegung der Asambleas (Volksversammlungen) entstand und jeden Freitagabend ein großer cacerolazo (Kochtopfkonzert) auf der Plaza de Mayo stattfand.

Vor der geräumten Textilfabrik Confecciones Brukman versammelten sich Tausende Demonstranten und forderten die Aufhebung der Räumung. Drei Tage der Proteste und der Asambleas, drei Tage, an denen Nachbarn, Piqueteros, Studenten und Menschenrechtsaktivisten an der Absperrung standen, Auge in Auge mit der schwerbewaffneten Bundespolizei. Die Teilnehmerin der Asamblea Parque Rivadavia Silvia Delfino begeisterte sich: »Wir erleben gerade die Rückkehr der Interbarrial, der Versammlung der Versammlungen, die vergangenes Jahr jedes Wochenende tagte.« Die Aktionen der Demonstranten vor Brukman wurden basisdemokratisch in Asambleas entschieden.

Am Montag entschieden sich die Arbeiterinnen dafür, die Fabrik wieder zu besetzen. Gegen 17.15 Uhr abends schlugen dann die Sicherheitskräfte los, als einige Arbeiterinnen versuchten, in die Fabrik zu gelangen. Eine brutale Repression folgte, mit der niemand gerechnet hatte. Mit Tränengas, Gummi- und Bleigeschossen trieben die Polizisten die Demonstranten durch die Straßen, manche verfolgten sie dreißig Blocks weit, schossen mit Tränengas auf Personen, die sich in die Universität und in ein Krankenhaus geflüchtet hatten. Mehr als dreißig Menschen wurden verletzt, zwei davon schwer.

Sechs Tage vor den Wahlen zerstörten die Bilder, die das argentinische Fernsehen in den Abendnachrichten minutenlang und unkommentiert verbreitete, jeglichen Anschein eines wiederhergestellten sozialen Friedens, den die Regierung Duhalde verbreiten ließ. Der soziale Konflikt brach wieder offen aus: Die Bilder der Repression sorgten dafür, daß sich Nachbarn spontan entschlossen, zusammen mit den Demonstranten zu den Kommissariaten zu ziehen, um die Freiheit der über 120 Festgenommenen zu fordern. Auf der Plaza Congreso sperrten Asambleas die Straßenkreuzung und diskutierten im Kreis, was sie tun sollten. Nach der Abstimmung setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung, vorbei am Kongreß, wo die aufgebrachten Menschen für die wacheschiebenden Polizisten nur ein Wort kannten: »Asesinos« – Mörder.

Die Räumung von Brukman, einer der symbolträchtigsten Einrichtung der argentinischen Bewegung, war vorerst der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Räumungen in den vergangenen zwei Monaten, denen auch das Büro von Indymedia Argentina und etliche von Asambleas besetzte und in Kulturzentren verwandelte Gebäude zum Opfer fielen.

Die Wahlfalle

Innerhalb der Bewegung gab es zahlreiche Initiativen zu den Wahlen. Im August 2002 kam es kurzzeitig zu einem Bündnis zwischen verschiedenen Teilen des Mitte-Links-Spektrums und den Gewerkschaften, welche die Aufhebung aller Mandate forderten. Die Regierung Duhalde hatte nach den Morden an den beiden Piqueteros Kostecki und Santillán in Avellaneda Ende Juni 2001 nur vorgezogene Präsidentschaftswahlen anberaumt. Abgeordnete, Senatoren und Oberste Richter sollten nicht ausgetauscht werden.

Doch das Bündnis für die Aufhebung aller Mandate zerbrach. Elisa Carrió präsentierte sich daraufhin mit einer neuen Partei zu den Wahlen, Luis Zamora und der Gewerkschaftsführer Victor de Gennaro verzichteten auf eine Kandidatur. Der ehemalige Trotzkist Zamora macht sich seitdem mit seiner Bewegung AyL (Selbstbestimmung und Freiheit) für den Wahlboykott stark. Auch ein Teil der Asambleas verfolgt eine ähnliche Initiative. Die Asamblea Cid Campeador aus dem Stadtteil Villa Crespo hat für den Wahlsonntag zu Aktionen des zivilen Widerstandes aufgerufen. Außerdem kursieren selbstgefertigte Stimmzettel mit der Losung »Alle sollen verschwinden«, welche die Wähler in die Urnen werfen sollen.

Die Initiativen zum Wahlboykott finden allerdings immer weniger Zuspruch. In Umfragen geben nur noch fünf Prozent der Befragten an, »weiß« (ungültig) zu stimmen. Auch innerhalb der Bewegung macht sich – nach den Ereignissen der vergangenen Woche – die Überzeugung breit, daß es doch wichtig ist, zu den Wahlen zu gehen. Silvia Delfino von der Asamblea Parque Rivadavia wird für die Vereinigte Linke stimmen (IU). Sie respektiert die Haltung anderer Asamableas zum Wahlboykott, sieht ihre Stimme für die IU aber als Stimme für die Menschenrechte an. Angesichts der neuerlichen Repression hält sie die Stärkung der mit der IU verbundenen Menschenrechtsorganisationen für nötiger. »Nicht zu wählen bedeutet, sich nicht klar zu artikulieren«, so Delfino: Die Stimmen schlügen sich später in der Statistik nicht nieder, weil sie als »ungültig« gewertet werden. Die Stimmen für die linken Parteien, die keine Aussicht auf die Präsidentschaft haben, würden dagegen nicht »verschenkt« sein – weil sie eben doch eine Dissidenz zur herrschenden Politik markierten.

Der Gewerkschaftler Miguel Bravetti ist Mitglied der Arbeiterpartei (PO). Er sieht in den Wahlen ein Instrument des Staates, seine beim Dezemberaufstand 2001 verlorene Autorität wiederherzustellen. »Es handelt sich um eine Falle«, ist Bravetti überzeugt. Die Teilnahme seiner Partei an den Wahlen diene dazu, diesen trügerischen und systemstabilisierenden Charakter der Wahlen zu entlarven. Gleichzeitig rufe die PO die Arbeiter auf, sich weiter zu organisieren und mit dem Aufstand vom Dezember fortzufahren. Die Wahl als solche ist für ihn »nur eine Episode zwischen zwei Phasen der Krise«. Den Wahlboykott hält er schon deshalb für falsch, weil Menschen aus ideologisch entgegengesetzten Richtungen dazu aufrufen: »Einer meiner Nachbarn sagt, man soll nicht wählen, weil die Revolution vor der Tür steht, ein anderer wähnt eben da die Militärs im Anmarsch.«

Aus: Junge Welt, 24. April 2003


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