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Menschenrechte für die Armen?

Roberto Martino über die argentinische Arbeitslosenbewegung

Roberto Martino ist Aktivist der argentinischen Bewegung Teresa Rodriguez, die für die Rechte der Erwerbslosen eintritt. Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, hat die Tageszeitung Neues Deutschland" veröffentlicht.*

ND: Die Bewegung der Piqueteros hat vor einigen Jahren über Argentinien hinaus für Schlagzeilen gesorgt. Warum ist es in letzter Zeit so still um sie geworden?

Roberto Martino: Wir sind in der Öffentlichkeit nicht mehr vorhanden, weil es der Wille der Regierung ist. Der Staat hat in den letzten Jahren alles versucht, um die Erwerbslosenbewegung zu zerstören. Doch erst heute, im Verlauf eines Wirtschaftsaufschwungs mit Wachstumsraten bis zu neun Prozent, könnten diese Pläne aufgehen. Die Piqueteros beginnen aus der öffentlichen Meinung zu verschwinden.

Ist das nur Regierungspropaganda oder hat die Bewegung tatsächlich an Einfluss verloren?

Die Bewegung ist in der Realität schwächer geworden. Das hat verschiedene Gründe. Manche Aktivisten haben vom Wirtschaftsaufschwung profitiert und sich aus der politischen Arbeit zurückgezogen. Doch viel schwerwiegender ist, dass die Regierung des Peronisten Kirchner die Losungen der Bewegung von 2001 enteignet hat. Die Menschen sind damals mit der Forderung nach einem Ende der Korruption und nach einer Bestrafung der Folterer der Militärdiktatur (1976-83) auf die Straße gegangen. Die jetzige Regierung hat sich diese Forderungen zu eigen gemacht und produziert sich als Weltmeister der Menschenrechte. Doch sie versteht darunter nur die Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig sind die Regierenden taub gegenüber den materiellen Entbehrungen, denen viele Menschen in Argentinien heute ausgesetzt sind. So gibt es allein in Buenos Aires mehr als 1000 Kinder im Alter zwischen 7 und 14 Jahren, die auf der Straße übernachten müssen. Viele Rentner haben weniger als 100 Euro monatlich zum Leben. Für diese Menschen gibt es bis heute keine Menschenrechte.

Haben auch Fehler in der Politik der Piqueteros zur Schwächung der Bewegung beigetragen?

Sicher. Unsere Fehler haben dazu geführt, dass wir einen Teil unserer Ideen verleugnet haben und von der Bevölkerung isoliert wurden. Ein Beispiel: Als wir vor vier Jahren nach Buenos Aires gekommen sind, haben uns die Bewohner Essen und Wasser gebracht. Heute fühlen sie sich belästigt, wenn wir im Rahmen einer Protestaktion für 15 Minuten die Straße blockieren.

Was waren die schwersten Fehler der Bewegung?

Wir sind zu schnell vorangegangen, haben zu viele Aktionen gemacht und haben so zu unserer Isolierung beigetragen. Ein weiterer Fehler war, dass wir nicht registriert haben, wie sich mit der Wahl von Kirchner die politische Situation in Argentinien geändert hat. Die Bewegung der Piqueteros ging zu lange davon aus, dass Argentinien von einer Revolution nur einen kleinen Schritt entfernt ist. Wir haben zu spät gemerkt, dass es eine gezielte Politik von Kirchner war, die Mittelschichten und auch Teile der Arbeiterschaft, einschließlich von Aktivisten der Piqueteros, auf seine Seite zu ziehen. Wir haben versäumt, die Methoden des Kampfes, aber auch unseren Diskurs des Protestes zu ändern und der neuen Situation anzupassen.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für Ihren Kampf?

Wir müssen uns über eine Organisation für Erwerbslose hinaus erweitern. Statt mehr Sozialhilfe müssen wir wirtschaftliche, kulturelle und politische Rechte für alle fordern. Dafür organisieren wir Nachbarschaftsversammlungen, wo die Menschen ihre Probleme und Wünsche offen ausdrücken können. So wollen wir deutlich machen, dass wir eine reale Demokratie nur von unten erkämpfen können.

Fragen: Peter Nowak

* Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2006


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