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Wahrung des Status quo

Bei den Präsidentschaftswahlen in Algerien wird der amtierende Staatschef Bouteflika wohl wieder das Rennen machen – allen Protesten zum Trotz

Von Sofian Philip Naceur *

Algerien wählt am Donnerstag einen neuen Präsidenten – und es wird wohl der alte werden. Seit dem Amtsantritt von Abdelaziz Bouteflika, Vorsitzender der regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) und Staatschef seit 1999, sind Abstimmungen in dem nordafrikanischen Land zur innenpolitischen Nebensache verkommen. Spannung im Wahlkampf oder gar Überraschungen bei der Verkündung der Ergebnisse? Fehlanzeige. Vielmehr war bereits im Vorfeld immer klar, wer das Rennen machen würde. Auch bei der Präsidentschaftswahl morgen wird nicht mit Unerwartetem gerechnet, der Sieg des 77jährigen Bouteflika ist abgemachte Sache. Und doch wird das Ergebnis mit einer gewissen Spannung erwartet, schließlich reißt die Kritik an der Kandidatur des erkrankten Staatschefs nicht ab. Der angestaute Frust über die fehlenden Perspektiven der Jugend beschert dem Land die heftigste Protestwelle seit Jahrzehnten.

Neben dem Amtsinhaber treten weitere fünf Kandidaten an. Ali Fawzi Rebaine, Moussa Touati und Louisa Hanoune von der trotzkistischen Arbeiterpartei Algeriens sind alle zum dritten Mal gegen den haushohen Favoriten dabei. Einziger Neuling im Rennen ist Abdelaziz Belaid, ein abtrünniger FLN-Funktionär. Alle vier sind praktisch chancenlos. Einziger ernstzunehmender Widersacher Bouteflikas ist der frühere FLN-Generalsekretär und ehemalige Premierminister Ali Benflis. Das letzte direkte Kräftemessen der beiden bei der Präsidentschaftswahl 2004 entschied der Amtsinhaber deutlich für sich. Bouteflika gewann mit rund 85 Prozent der Stimmen, der Zweitplatzierte Benflis erreichte nur sechs Prozent. Nach der herben Niederlage verschwand er in der Versenkung und trat erstmals im September 2013 wieder öffentlich in Erscheinung. Seit seiner offiziellen Kandidatur wirbt Benflis für einen demokratischen Wechsel an der Spitze des Landes, doch hat das den bitteren Nachgeschmack einer hoffnungslosen Scheinkandidatur.

Der gesundheitlich schwer angeschlagene Bouteflika galt nach einem Schlaganfall im April 2013 als faktisch abgetreten, doch nach seiner Rückkehr auf die politische Bühne installierte er mit Amar Saidani einen engen Vertrauten im Amt des FLN-Generalsekretärs und brachte im Zuge einer Kabinettsumbildung das Innen- und Justizministerium unter seine Kontrolle. Seine parteiinternen Gegner in der FLN und im Sicherheitsapparat waren damit vorerst kaltgestellt. Benflis tritt dennoch gegen einen gesundheitlich Angeschlagenen an, der seinen Wahlkampf nicht selbstständig bestreitet, sondern ein sechsköpfiges Team berufen hat, für ihn auf Stimmenfang zu gehen.

Die Farce in Algerien brachte die oppositionelle Zeitung Le Matin bereits im März auf den Punkt, als sie schrieb: »Benflis, der einzige Kandidat, der an seine Chance glaubt, bei einer Wahl, vorbereitet vom früheren Regierungschef Abdelmalek Sellal, organisiert von Tayeb Belaiz (Innenminister), kontrolliert von Tayeb Louh (Justizminister) und bestätigt von Mourad Medelci«, Chef des Verfassungsrates und Bouteflikas langjähriger Außenminister. Medelci war auf dem Posten auch für die Annahme der Kandidaturen zuständig. Bouteflikas Zulassung ist an sich schon ein Skandal, muß der Staatspräsident doch nach Artikel 88 der algerischen Verfassung gesund genug sein, das Amt tatsächlich ausüben zu können. Bouteflika ist jedoch seit zwei Jahren nicht mehr öffentlich erschienen, und seine TV-Auftritte der vergangenen Wochen waren bizarr. Algeriens Staatsfernsehen zeigte ihn bei seinen Treffen mit dem Emir von Katar, dem UN-Sondergesandten für Syrien, Lakdar Brahimi, und US-Außenminister John Kerry. Bouteflikas schwache unverständliche Stimme und seine Schwäche beim Besuch von US-Außenminister John Kerry nährten weiter Zweifel an seinem Gesundheitszustand und animierte Blogger, seine Kandidatur als »Satire« zu bezeichnen.

Dennoch ist Bouteflikas Clan und der mit ihm verbündete Militärapparat offenbar fest entschlossen ihn ein weiteren Mal ins höchste Staatsamt zu hieven. Die komplizierten und nebulösen Machtstrukturen in Algerien machen es schwierig bis unmöglich, diese riskante Entscheidung nachzuvollziehen. Die Führung scheint aber darauf zu setzen, die Nachfolge und damit einen offenen Machtkampf innerhalb des Regimes vorerst zu verschieben. Auf der unabhängigen arabischen Nachrichtenwebsite Jadaliyya wird Algeriens Regime als ein »Kartell« beschrieben, dessen primäres Ziel die »Wahrung des Status quo« sei. Bouteflikas Clan ist lediglich eine von mehreren an der Macht beteiligten informellen Fraktionen. Selbst innerhalb der FLN ist er nur einer von zahlreichen konkurrierenden Flügeln, jedoch der mit Abstand mächtigste. Algeriens Stabilität hat derzeit auch für seine internationalen Partner oberste Priorität, daher ist selbst bei heftigen Protesten gegen Bouteflika derzeit nicht mit einem Wechsel an der Staatsspitze zu rechnen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. April 2014


"Barakat" gegen Bouteflika **

»Barakat«, »Es reicht«, heißt Algeriens neue Protestbewegung, die am Stuhl von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika sägt und zum Boykott der Wahl aufruft. Algeriens Bevölkerung ist mehrheitlich jünger als 35, und viele Menschen fühlen sich ob der verfehlten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der Regierung im Stich gelassen. Die größten sozialen Probleme sind die immense Jugendarbeitslosigkeit und die eklatante Wohnungsnot. Doch Algeriens Jugend macht sich Luft. Vorbei ist die Zeit der Hinnahme der alternativlos und autokratisch regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN), auch wenn Sicherheitskräfte Proteste weiterhin mit Gewalt niederknüppeln. Mit »Barakat« haben viele Menschen in Afrikas größtem Flächenstaat, ernüchtert von Algeriens pseudo-demokratischer Fassade und maßlos enttäuscht von den etablierten Oppositionsparteien, einen Weg gefunden, sich gegen die Regentschaft des allmächtigen Militär- und Geheimdienstapparates zu wehren. Die Bewegung könnte bei anhaltendem Zulauf einem größeren Aufstand den Weg bereiten.

Während der sogenannte Arabische Frühling 2011 die gesamte Region in Aufruhr versetzte, blieb es in Algerien damals weitgehend ruhig. Der größten Kundgebung in Algier mit rund 3000 Menschen begegnete das Regime mit einer Machtdemonstration. 30000 Sicherheitskräfte aus dem ganzen Land wurden damals zusammengezogen, die Hauptstadt in eine Festung verwandelt. Doch heute ist Algeriens junge Protestbewegung im Aufwind. Bouteflikas Kandidatur hat eine rote Linie überschritten und Menschen mobilisiert. Algier erlebte zwar auch in den letzten Jahren trotz des Versammlungsverbots immer wieder Demonstrationen, doch haben die derzeitigen in allen Landesteilen deutlich mehr Zulauf als 2011. Allein in der ersten Märzwoche wurden drei Massenversammlungen in der Innenstadt von Algier gewaltsam aufgelöst. Zudem rumort es seit Wochen in der mehrheitlich von der Berberminderheit bewohnten Kabylei östlich der Hauptstadt. Die Provinzen Tizi Ouzu, Bejaia und Bouira waren zuletzt immer wieder Schauplatz lokaler Proteste gegen Bouteflikas Kandidatur. So stürmten am 5. April Bouteflika-Gegner eine Veranstaltung seines Wahlkampfleiters Abdelmalek Sellal in Bejaia, bevor dieser überhaupt am Versammlungsort erschienen war. Auch vor der Kampagne des Herausforderers Ali Benflis machten die Proteste in der Kabylei nicht halt, Aktivisten störten die Rede eines seiner Unterstützer in Bouira.

Dabei finden Forderungen der Berberminderheit nach Anerkennung ihrer Sprache Amazigh durchaus Gehör. Sowohl Benflis als auch Louisa Hanoune, Vorsitzende der trotzkistischen Arbeiterpartei PT, haben sich die gesellschaftliche Anerkennung der Berber auf die Fahne geschrieben. Hanoune forderte die institutionalisierte Anerkennung Amazighs als zweite nationale Sprache, während Benflis in Tizi Ouzu der Opfer des Berberaufstandes von 1963 gedachte und die »Emanzipation« der Berber ankündigte. Initiativen dieser Art sind jedoch eher wahltaktischer Natur, beide Kandidaten sind schließlich auf Stimmenfang und wollen den in der Kabylei verankerten Parteien den Einfluß streitig machen. Nachdem die oppositionelle Sammlung für Kultur und Demokratie (RCD) schon vor Monaten bekanntgegeben hatte, die Wahl zu boykottieren, kündigte auch die zweite große Berberpartei, die Front der sozialistischen Kräfte (FFS) von Ahmed Betatache, jüngst an, die Abstimmung nicht anzuerkennen, da sie jeglichen demokratischen Prinzipien widersprechen würde. In der Kabylei wartet man derweil gespannt auf den 20. April. Die angekündigten Proteste zum Jahrestag des von der Staatsmacht blutig unterdrückten Berberfrühlings 1980 dürften ein Drahtseilakt für die Machthaber in Algier werden. Nur drei Tage nach den Wahlen sind Unruhen praktisch programmiert.

Sofian Philip Naceur

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. April 2014


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