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Algerien wählt ohne Frühlingsgefühle

Bei den Parlamentswahlen gilt die Regierungspartei FLN als Favorit - trotz Unmuts in der Bevölkerung

Von Abida Semouri *

Ein Regierungswechsel in Algerien ist nicht in Sicht. Bei den heutigen Parlamentswahlen wird erwartet, dass die seit 1962 regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) auch danach die stärkste Fraktion stellen wird. Die Mehrheit der Algerier hat der Politik seit Langem den Rücken gekehrt.

Als Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika Mitte Februar seinen neuen tunesischen Amtskollegen Moncef Marzouki zum offiziellen Staatsbesuch in Algier empfing, dürfte dabei auch ein Gefühl der Genugtuung mitgeschwungen haben. Im Gegensatz zu Ben Ali (Tunesien), Hosni Mubarak (Ägypten) und Muammar al-Gaddafi (Libyen) hat er den arabischen Frühling scheinbar unbeschadet überstanden und sitzt immer noch sicher auf seinem Präsidentensessel.

Bouteflikas Machtposition werden die Parlamentswahlen am heutigen Donnerstag nicht antasten. Zwar bewerben sich Kandidaten von 44 Parteien um 462 Sitze im algerischen Parlament, doch nach einer unspektakulären Kampagne werden weder ein Sturm auf die Wahlurnen noch ein politischer Wandel erwartet. Die Nationale Befreiungsfront (FLN) gilt als klarer Favorit.

Ein Großteil der Bevölkerung empfindet angesichts Bouteflikas Selbstgewissheit Frustration und Ohnmacht. Die Algerier werden immer noch von einem Machthaber der Art regiert, wie sie in den anderen Ländern hinweggefegt worden sind. Auch in Algerien hatten sich in den bewegten Januarwochen 2011 Menschen aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lebenslage selbst verbrannt. Aber im Gegensatz zur Verzweiflungstat des Tunesiers Mohamed Bouazizi, die zur Initialzündung für den »arabischen Frühling« wurde, blieben die der jungen Algerier ohne Echo. Sie reihten sich ein in die landesweit fast täglichen Proteste aufgebrachter Bürger gegen wachsende Armut, Korruption und Willkür der Obrigkeit, die regelmäßig von der Polizei niedergeschlagen werden.

Auch die Algerier sehnen sich nach Gerechtigkeit und wahrer Demokratie. Aber sie haben bereits in den 90er Jahren die Erfahrung machen müssen, dass sie gegen die Herrscherclique, die das Land fest im Griff hat, nichts ausrichten können. Die Islamisten hatten ihnen das Paradies auf Erden versprochen, wurden aber 1992 von den Militärs durch einen kalten Putsch um ihren überwältigenden Wahlsieg gebracht und wollten ihre Ziele daraufhin mit Gewalt durchsetzen. Allerdings war das auch im Interesse eines Teils der Machthaber. Generäle und deren Clans profitierten vom Chaos, indem sie sich bei der Umwandlung eines staatsmonopolistischen in ein privates Wirtschaftssystem die Löwenanteile sicherten. Wer angesichts täglicher Bombenanschläge und Attentate um sein nacktes Leben fürchten musste, lehnte sich nicht gegen massenhafte Entlassungen und Preissteigerungen auf. Auf der Strecke blieben jene, die ein demokratisches, modernes Algerien anstrebten. Sie wurden sowohl von den Islamisten als auch vom mafiösen System bekämpft.

In Algerien ist mittlerweile der »arabische Winter« eingezogen. Die Erkenntnis, dass sich das Land trotz 200 000 Toten lediglich im Kreis gedreht hat, lässt die Menschen frösteln. Nach wie vor profitieren dieselben Akteure von den unermesslichen Reichtümern des riesigen Landes. Bouteflika hat zwar Milliarden in die Infrastruktur und in Wohnungsbauprogramme gesteckt. Die Realisierung der Großprojekte wurde aber in die Hände ausländischer Unternehmen gelegt, die wie im Fall chinesischer Firmen ihre Arbeitskräfte mitbringen. Von einer nachhaltigen Ankurbelung der Wirtschaft kann keine Rede sein. Stattdessen treiben Korruption und Vetternwirtschaft ihre Blüten.

Viele Algerier haben die Hoffnung auf einen friedlichen Wandel verloren. Die Parteien haben ihr Vertrauen verspielt. Von den Parlamentsabgeordneten fühlen sich die Menschen längst nicht mehr vertreten. Was vor allem junge Leute von den üblichen Wahlmaskeraden halten, sagte ein junger Mann vor wenigen Wochen bei einer Debatte im Staatsfernsehen unter dem Applaus der Diskussionsteilnehmer: »Wir werden nicht wählen. Ich wende mich hier an die Verantwortlichen in diesem Land. Ihr steht uns bis hier. Ihr habt Euch alles unter den Nagel gerissen. Selbst die Sessel, an denen Ihr Euch festklammert, sind von Euch angewidert. Haut ab und nehmt die Sessel und gleich das halbe Land mit. Wir wollen Leute, die Gott fürchten und die etwas für das Wohl dieses Landes tun.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. Mai 2012


Parlamentswahlen in Algerien

Regierungspartei geht als Favorit ins Rennen. Bevölkerung zeigt wenig Interesse an der Abstimmung

Von Sofian Philip Naceur *


Es war ein schleppender Wahlkampf, nach dem heute in Algerien 21 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen sind ein neues Parlament zu wählen. Niemand rechnet mit einer Entmachtung der Nationalen Befreiungsfront FLN, die seit der Unabhängigkeit 1962 ununterbrochen das Land regiert. Das Desinteresse der Bevölkerung an der Wahl ist unübersehbar. Der FLN brach kürzlich gar eine Veranstaltung in Relizane aus Mangel an Publikum ab. Dennoch wird der Ausgang der Abstimmung mit Spannung erwartet.

Seit 1997 regiert der FLN von Staatspräsident Abdelasis Bouteflika zusammen mit seiner linken Abspaltung Nationale Demokratische Sammlung (RND) und den gemäßigten Islamisten der Bewegung der Gesellschaft für den Frieden (MSP). Diese ließ im Januar die Koalition aus Solidarität mit der arabischen Protestbewegung und aus wahlkampftaktischem Kalkül platzen. Angesichts des Machtzuwachses moderat islamistischer Parteien in Tunesien und Marokko hofft MSP-Chef Bouguerra Soltani auf ein gutes Ergebnis. Doch die Konkurrenz ist groß. Über 20 Parteien wurden seit Februar 2011 neu zugelassen. Das Spektrum wuchs auf 44 insgesamt, die sich um die 462 Sitze in der algerischen Nationalversammlung bewerben.

Allein im islamistischen Lager tummeln sich sechs Parteien, mit zweien schloß sich die MSP zur Grünen Allianz zusammen. Nach einer ersten Umfrage erreicht die Allianz aber nur zwei Prozent der Stimmen, 2007 kam die MSP noch auf fast zehn Prozent. Der FLN geht als haushoher Favorit ins Rennen. Offizielle Zahlen aus Algerien sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Die freie Parlamentswahl 1991 führte das Land nach dem Sieg der Islamisten und dem Militärputsch 1992 in einen blutigen Bürgerkrieg. Seither gelten die Wahlen als manipuliert, die Machtverteilung wird hinter verschlossenen Türen ausgehandelt.

Präsident Bouteflika und Premier Ahmed Ouyahia (RND) setzen dennoch alles daran, zur Stimmabgabe zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung lag 2007 bei nur 36 Prozent. Die Koalition ist diskreditiert und hat jedwede Legitimität verloren. Erstmals überwachen daher rund 500 Beobachter die Abstimmung, darunter auch 120 Vertreter der EU. Unregelmäßigkeiten wurden jedoch schon vor der Wahl vermerkt.

FLN und RND versuchten mit einer zweifelhaften Kampagne die Menschen zur Teilnahme zu bewegen. Wahlenthaltung oder ein Votum für die Islamisten könne eine Intervention von außen provozieren, betonte Ouyahia bei einer Wahlkampfrede in Tipasa. Die Koalition hingegen habe Frieden und Stabilität bewahrt und den Bürgerkrieg beendet. Er behauptete sogar, der arabische Frühling sei »das Werk des Zionismus und der NATO«. Algier hielt den stürzenden Regimes in Tunesien und Libyen bis zuletzt die Treue und war bemüht, die Volksaufstände als alleiniges Produkt ausländischer Verschwörungen zu dämonisieren.

Algerien blieb trotz der revolutionären Stimmung in der Region weitgehend stabil. Doch das Regime wurde angesichts lokaler Unruhen vor den Wahlen nervös. Nach der Selbstverbrennung eines jungen Straßenhändlers in Jiel, 350 Kilometer östlich von Algier, vor zwei Wochen kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Das Regionalbüro des FLN ging in Flammen auf, die Stadtverwaltung wurde gestürmt. Szenen wie diese gab es in den vergangenen Wochen mehrmals. Die Regierung zog daher für den Wahltag zusätzlich 120000 Sicherheitskräfte zusammen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Mai 2012


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