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"Hauptgrund für die Spirale der Gewalt in Algerien ist das Fehlen des Rechtsstaats"

Das "ständige Tribunal der Völker" verurteilt die in Algerien begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen als Verbrechen gegen die Menschheit

Im Folgenden dokumentieren wir die deutsche Fassung einer Presseerklärung des "Komitees Gerechtigkeit für Algerien" anlässlich des Anfang November in Paris abgehaltenen "Basso-Tribunals" über Algerien. Informationen über das "ständige Tribunal der Völker" entnehmen Sie bitte dem Anhang weiter unten.
Das Tribunal wurde unterstützt von:
  • Algerien: Ligue algérienne de défense des droits de l'homme (LADDH), SOS Disparus.
  • Frankreich: Action des chrétiens pour l'abolition de la torture (ACAT), Association droits de l'homme pour tous (ADHT), Cedetim, Collectif des familles de disparu(e)s en Algérie, Ligue française des droits de l'homme, Survie.
  • Deutschland: Pro Asyl.
  • Internationale NGO: Algeria-Watch, Amnesty International, Comité international pour la paix, les droits de l'homme et la démocratie en Algérie (CIPA), Fédération internationale des ligues des droits de l'homme (FIDH), Human Rights Watch (HRW), Organisation mondiale contre la torture (OMCT), Reporters sans frontičres (RSF), Réseau euroméditerranéen des droits de l'homme (REMDH).


Paris, 11. November 2004
(dt. fassung vom 18.11.04)

Presseerklärung des Komitee Gerechtigkeit für Algerien

Das ständige Tribunal der Völker verurteilt die in Algerien seit 1992 begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen als Verbrechen gegen die Menschheit

32. Session des ständigen Tribunals der Völker:

Menschenrechtsverletzungen in Algerien (1992-2004)

Paris, 5.-8. November 2004

Das ständige Tribunal der Völker, das vom Komitee Gerechtigkeit für Algerien (CJA, Comité Justice pour l'Algérie) zu den Menschenrechtsverletzungen in Algerien (1992-2004) angerufen wurde, erließ am 8. November 2004 ein ausführlich begründetes Urteil (die endgültige Fassung wird in nächster Zeit veröffentlicht).*

Das Tribunal stellt einleitend fest:
  • Die internationalen Konventionen und gewohnheitsrechtlichen Bestimmungen beziehen sich vor allem auf Staaten. Daraus folgt, daß der Staat verantwortlich ist für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit für alle Menschen auf dem gesamten Staatsgebiet. Dem Staat kann daher die Verantwortung für die auf seinem Staatsgebiet begangenen Verletzungen von internationalen Konventionen zugeschrieben werden.
  • Der Umstand, daß die politischen und militärischen Organisationen wie auch die bewaffneten Gruppen, die sich auf den Islam berufen, keine Subjekte des internationalen Rechts sind, schließt nicht aus, daß sie als Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen angeklagt und verurteilt werden.
Die dem Tribunal in Dokumenten unterbreiteten und in Zeugenaussagen vorgetragenen Sachverhalte stellen nach Auffassung des Tribunals schwere Verletzungen mehrerer internationaler Konventionen seitens des algerischen Staates und verschiedener bewaffneter, sich auf den Islam berufender Gruppen dar. Sie sind zugleich Verletzungen allgemeiner gewohnheitsrechtlicher Bestimmungen des internationalen Rechts im Sinne der Definition von Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen . Die Bestimmungen der Charta von Algier zu den Rechten der Völker, die 1976 von zahlreichen Persönlichkeiten und Nichtregierungsorganisationen verabschiedet wurde, wurden ebenfalls verletzt.

Das Tribunal ist der Ansicht, daß der Hauptgrund für die Spirale der Gewalt, die Algerien nach 1988 erfaßte, im Fehlen des Rechtsstaats besteht, was in erster Linie auf die Einflußnahme des Militärregimes auf das politische, wirtschaftliche und rechtliche Leben zurückzuführen ist, d.h. im Fehlen eines Rechtssystems, das keine verdeckte und dem Recht nicht verpflichtete Macht zuläßt, die die Gewalt dem Recht unterstellt und die staatlichen Gewalten zum Schutz der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Leben, verpflichtet. Auf dieser Grundlage kommt das Tribunal zu folgenden Feststellungen:
  • Das Tribunal ist der Ansicht, daß die geschilderten Massaker systematische oder ausgedehnte Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind und daß die Täter und ihre Komplizen eines Verbrechens gegen die Menschheit im Sinne des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (Art. 7,1) schuldig sind; das Tribunal stellt fest, daß die direkte Verantwortung bzw. die Komplizenschaft des Militärs für diese Massaker nachgewiesen ist und daß die Manipulation der bewaffneten Gruppen, die sich auf den Islam berufen, durch die Sicherheitskräfte diese Gruppen nicht von ihrer Verantwortung für das Begehen dieser Verbrechen gegen die Menschheit befreit.
  • Das Tribunal ist der Ansicht, daß das zwangsweise Verschwindenlassen in Tausenden von Fällen aufgrund seiner Natur, seines Ausmaßes und der Bedingungen, unter denen es stattfindet, eine schwere Verletzung des internationalen Rechts im allgemeinen und der von Algerien ratifizierten internationalen Abkommen darstellt; diese wiederholten oder systematischen Verletzungen stellen Verbrechen gegen die Menschheit im Sinne des Artikels 7,1,i des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs dar; das Tribunal stellt fest, daß das Angebot einer finanziellen Entschädigung für die Familien der "Verschwundenen" seitens des algerischen Staates einem impliziten Eingeständnis seiner Verantwortung für die Fälle des Verschwindenlassens gleichkommt.
  • Das Tribunal kommt zu dem Schluß, daß die Verbrechen der Folter , die in Algerien von den staatlichen Sicherheitskräften und ihren Hilfskräften im Oktober 1988 und seit 1992 bis heute in systematischer oder ausgedehnter Weise gegen die Zivilbevölkerung begangen wurden, Verbrechen gegen die Menschheit sind.
  • Das Tribunal bezieht die Entführungen junger Frauen mit anschließender Vergewaltigung durch die Mitglieder von bewaffneten, sich auf den Islam berufenden Gruppen ein. Es hat ebenfalls die Vergewaltigungen und Mißhandlungen, die von Mitgliedern der Sicherheitskräfte und ihrer Hilfskräfte begangen wurden, untersucht. Das Tribunal kommt zu dem Schluß, daß es sich in beiden Fällen um Verbrechen gegen die Menschheit handelt.
  • Das Tribunal betont, daß die Gewalt in Algerien bis heute Opfer fordert und keine politische Lösung angestrebt wird, um dem Leiden des algerischen Volkes ein Ende zu setzen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das algerische Volk sein volles Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen kann.
Das Tribunal verurteilt einerseits die Verantwortlichen für die Verbrechen gegen die Menschheit aufs Schärfste und schlägt zudem andererseits eine Reihe von Maßnahmen vor:
  • Eine ernsthafte "Operation Wahrheit", die, sollte die algerische Gesellschaft selbst dazu nicht in der Lage sein, von einer Wahrheitskommission der Vereinten Nationen durchzuführen ist, um die begangenen Verbrechen zu untersuchen und vor dem Vergessen zu bewahren, nicht nur um sie zu bestrafen; das Tribunal erinnert daran, daß das internationale Recht das Recht des Bürgers auf Recht und Gerechtigkeit garantiert und daß kein Rechtsstaat besteht, wenn die Verletzung der Grundrechte des Menschen nicht verurteilt und die Verantwortlichen für die Verbrechen nicht in einem fairen Verfahren bestraft werden. In diesem Sinne ruft das Tribunal den algerischen Staat dazu auf, den Sonderberichterstattern, die von allen Konventionen der UNO vorgesehen sind, die Erlaubnis für die Durchführung ihrer Mission auf dem algerischen Staatsgebiet zu erteilen, und erinnert daran, daß jede Maßnahme, die das Vergessen und die Auslöschung der schrecklichen Verbrechen zum Ergebnis hat, nach ethischen und juristischen Prinzipien völlig unannehmbar ist. Eine neue Seite kann erst dann aufgeschlagen werden, wenn alles aufgeklärt und eben nicht ausgelöscht wurde.
  • Die Respektierung der algerischen Verfassung und die Beachtung der in ihr festgeschriebenen demokratischen Prinzipien, insbesondere eine wirksame und reale Gewaltenteilung, um den Einfluß des Militärs auf die algerischen Institutionen zu begrenzen; in diesem Sinne fordert das Tribunal, daß die Aktivitäten der politischen Polizei im Dienste einer Gesundung des politischen Lebens eingestellt werden: die Autonomie der politischen Parteien, Gewerkschaften und Vereinigungen ist eine grundlegende Voraussetzung für den Aufbau eines demokratischen Staates.
  • Die Verbesserung des algerischen Rechtssystems: Beendigung des Ausnahmezustandes und Aufhebung der verschiedenen Ausnahmegesetze, die im Widerspruch zu den von der algerischen Verfassung garantierten Grundrechte und Freiheiten stehen, einschließlich des Familiengesetzes von 1984.
  • Die Verpflichtung der EU - das Tribunal betont die besondere Verantwortung der EU aufgrund des Assoziationsabkommens mit den euromediterranen Partnerstaaten im Rahmen des Barcelona-Prozesses (1995) und der 2004 unterzeichneten "neuen Nachbarschaftspolitik" -, die Partnerschaftsbeziehungen mit Algerien nur unter der Bedingung der Achtung der Grundrechte fortzuführen.
Zur Erinnerung:

Das Komitee Gerechtigkeit für Algerien hat mit Brief vom 6. Juni 2003 beim Präsidenten des ständigen Tribunals der Völker einen Antrag zur Einberufung einer internationalen Gerichtsbarkeit über die Verletzungen der Menschenrechte in Algerien insbesondere seit 1992 eingereicht. Diese Initiative fand die Unterstützung von algerischen und internationalen NGOs, den beiden Nobelpreisträgern Shirin Ebadi (Iran, 2004) und Adolfo Perez Esquivel (Argentinien, 1980) und zahlreichen weiteren Persönlichkeiten.

In Übereinstimmung mit den Statuten des Tribunals wurden Ort, Zeitpunkt und Inhalt der Session am 28. September 2004 der algerischen Regierung über ihre Botschaften in Italien und Frankreich mitgeteilt und diese eingeladen, ihr Recht auf Verteidigung wahrzunehmen. Das Tribunal erhielt keine Antwort auf diese Anfrage, und bei der Session war kein Vertreter der algerischen Regierung zugegen.

Nach den öffentlichen Anhörungen der Zeugen und Experten am 5. und 6. November in Anwesenheit von mehr als 250 Personen beriet sich das Tribunal am 7. November und gab sein Urteil am 8. November der Öffentlichkeit bekannt.

Die Gesamtheit der Dokumente der 32. Session des ständigen Tribunals der Völker (insbesondere 19 umfassende Dossiers, die dem Tribunal vom Komitee Gerechtigkeit für Algerien unterbreitet wurden, und die vollständige Fassung des Urteils des Tribunals) werden in nächster Zeit auf der Webseite www.algerie-tpp.org veröffentlicht.

Comité Justice pour l'Algérie, c/o Cedetim, 21 ter , rue Voltaire, 75011 Paris
Webseite: www.algerie-tpp.org - Email: info@algerie-tpp.org


* Die neun Mitglieder des Tribunals in Paris kamen aus sechs Ländern. Es handelt sich um:
  • Salvatore Senese (Italie, magistrat, président de session ŕ la Cour supręme de cassation, président du Tribunal permanent des peuples );
  • Sihem Bensedrine (Tunisie, journaliste, porte-parole du Conseil national des libertés en Tunisie);
  • Luigi Ferrajoli (Italie, professeur de théorie générale du droit ŕ la Faculté de droit de l’Université de Rome-III);
  • Burhan Ghalioun (Syrie, professeur de sociologie politique ŕ la Sorbonne nouvelle-Paris-III et directeur du Centre d’études sur l’Orient contemporain);
  • Franco Ippolito (Italie, magistrat, juge ŕ la Cour supręme de cassation);
  • Luis Moita (Portugal, professeur de sociologie des relations internationales ŕ l’Université autonome de Lisbonne);
  • Ignazio Juan Patrone (Italie, magistrat, juge assistant ŕ la Cour constitutionnelle italienne, président de l’Association des magistrats européens pour la démocratie et les libertés);
  • Werner Ruf (Allemagne, professeur de relations internationales de l’Université de Kassel);
  • Philippe Texier (France, magistrat ŕ la Cour de Cassation).



Was ist das ständige Tribunal der Völker (Tribunal permanent des peuples)?

Das ständige Tribunal der Völker ist ein internationales, von Staaten unabhängiges und öffentliches Tribunal. Als symbolisches Gericht untersucht es öffentlich und in Anwesenheit der Parteien Fälle von Verletzungen der Menschen- und Völkerrechte, in denen Opfer (bzw. Personen oder Vereine, die sie unterstützen) Anklage erheben und das Tribunal anrufen. Seine Gründung erfolgte im Juni 1979 in Bologna durch Juristen, Schriftsteller und andere Intellektuellen auf Anregung der Internationalen Lelio-Basso-Stiftung für die Rechte der Völker, die auf Initiative des italienischen Widerstandskämpfers und Demokraten Lelio Basso (1903-1978) 1976 gegründet wurde.

Dieses Tribunal steht in der Tradition des Russel-Tribunals, das unter dem Vorsitz von Bertrand Russel, Jean-Paul Sartre und schließlich Lelio Basso in den sechziger und siebziger Jahren die Kriegsverbrechen in Vietnam aufdeckte. Den Vorsitz des ständigen Tribunals der Völker, dem zunächst François Rigaux (Rechtsprofessor in Brüssel) vorstand, hat heute der italienische Richter Salvatore Senese inne.

Die Basso-Stiftung berief kurz nach ihrer Gründung eine internationale Konferenz in Algier ein, die am 4. Juli 1976, dem zweihundertsten Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dem Vorabend des algerischen Unabhängigkeitstages, stattfand und die "Universelle Erklärung der Rechte der Völker" proklamierte. Obgleich es sich um eine Initiative von Privatpersonen handelte und der Begriff der "Rechte der Völker" bereits gelegentlich Eingang in internationale Abkommen gefunden hatte, wurde hiermit zum ersten Mal der Versuch unternommen, die Rechte der Völker in einem einzigen Dokument zu formulieren.

Neben der universellen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der Charta der Vereinten Nationen stellt die Erklärung der Rechte der Völker heute für viele internationale Juristen ein Dokument von grundlegender Bedeutung dar. Diese Erklärung hat auch achtundzwanzig Jahre nach ihrer Verabschiedung nicht an Aktualität verloren. Und die Zeit und der Ort, an dem sie verabschiedet wurde, erscheinen im aktuellen Kontext in einem besonderen Licht.

Das Sekretariat des TPP befindet sich in Mailand (Italien) und wird geführt von der Internationalen Liga für die Rechte der Völker, die im Juni 1982 gegründet wurde. Sie erhielt von der UNO den Status einer Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) mit Akkreditierung beim ECOSOC (Economic and Social Council) und ist bei der Menschenrechtskommission in Genf vertreten. Das Tribunal verbreitet seine Urteile über die Liga in den Institutionen der Vereinten Nationen. Seine Arbeiten sind ein Beitrag zu den Aktivitäten der globalen Zivilgesellschaft und werden durch die Medien in der Öffentlichkeit verbreitet.

Das ständige Tribunal der Völker kann von Vereinen, Parteien, Organisationen und Einzelpersonen angerufen werden. Die Anrufung des Tribunals muss von glaubwürdigen Personen ausgehen und die Institutionen, Gruppen und Personen, denen Verletzungen zur Last gelegt werden, benennen, gegen welche die Antragsteller eine Anklage mit der Aussicht auf eine Verurteilung erheben wollen.

Das ständige Tribunal der Völker verfügt über die nötige Kompetenz zur Beurteilung und Untersuchung der Anträge, um diese gegebenenfalls annehmen, erweitern oder ganz oder teilweise ablehnen zu können. Es wendet sich an alle betroffenen Parteien und bietet selbstverständlich den Angeklagten die Möglichkeit, eine Stellungnahme vorzubringen. Das Tribunal entscheidet in Abstimmung mit den Antragstellern über Ort und Dauer des Verfahrens sowie über die Zusammensetzung der Jury. Die Mitglieder der Jury werden aus einer vom Sekretariat des ständigen Tribunals der Völker erstellten Liste ausgewählt (mit sechzig Mitgliedern, darunter 23 Juristen und fünf Nobelpreisträger, aus 31 verschiedenen Nationen).

Das Tribunal befindet über die Sachverhalte, die ihm unterbreitet werden bzw. sich aus seinen Untersuchungen ergeben. Es wendet die allgemeinen und üblichen Normen des internationalen Rechts und insbesondere die in den internationalen Abkommen und der internationalen Praxis allgemein anerkannten Prinzipien der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker an.

Das ständige Tribunal der Völker hat seit seiner Gründungsversammlung im Juni 1979 31 Sessionen zu verschiedenen Themen abgehalten, die sich in drei Gruppen aufteilen lassen:
  • Verletzungen von Rechten bestimmter Völker (vierzehn Sessionen);
  • die neuen Grenzen des Rechts (vier Sessionen);
  • die "neuen" Rechtssubjekte und die "neuen Rechtsverletzungen" (elf Sessionen).
Quelle: Komitee Gerechtigkeit für Algerien, Website: www.algerie-tpp.org





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