Was ist Terror? Was ist Freiheitskampf?
Das Phänomen des Terrorismus lässt sich nicht auf das "Phänomen Gewalt" reduzieren
Den folgenden Text haben wir in der Wochenzeitung "Freitag" gefunden. Wir dokumentieren ihn gekürzt.
Von Sabine Kebir
Das Phänomen des Terrorismus lässt sich nicht auf das "Phänomen Gewalt" reduzieren
... Die arabische
Zivilgesellschaft spricht inzwischen von "integristischem Faschismus", um
das Wesen islamistischer Netzwerke wie deren temporäre
Instrumentalisierung durch die Politik des Westens zu beschreiben. Eine
bestechende Analyse liefert das hier dokumentierte Manifest für ein
Nürnberg gegen den integristischen Faschismus, das vor dem 11.
September und den US-Militärschlägen gegen Afghanistan entstand.
Nur wenige Tage, nachdem ihr Mann, ein sozial und politisch engagierter
Arzt, der auch historische Chroniken über die Kasbah publizierte, 1993 in
seinem Sprechzimmer von einem vermeintlichen Patienten erschossen
worden war, setzte sich Fatima Zohra Flici in ihr Auto, um andere
Opferfamilien aufzusuchen und bald darauf eine Nationale Organisation der
Opfer des Terrorismus in Algerien zu gründen. Obwohl der Verband inzwischen Tausende Mitglieder und Unterstützer im
ganzen Land hat, ist Fatima oft noch selbst unterwegs, auch in
gefährlichen Gebieten, weil vielen Kommunen Wohnungen, Geld oder die
psychische Betreuung für Terroropfer buchstäblich abgerungen werden
müssen. ... Für manche steht Fatima Zohra
der Regierung zu nahe, weil es ihr zuweilen gelingt, Präsident Bouteflika
persönlich ein Zugeständnis für die Opfer abzuringen. Aber was bleibt ihr
anderes, als zu antichambrieren und zu betteln? Ihr "skandalöses
Problem" liegt darin, dass seit Durchsetzung der Concorde Civile (s.
Übersicht unten) die sozialen Bedürfnisse der Terroristen des AIS per
Gesetz geregelt sind. Die ihrer Opfer - wie in der Zeit zuvor - nur per
Dekret. Bei der chronischen Finanznot algerischer Gemeinden lässt sich
ausrechnen, dass es vielen Familien von Opfern schlechter geht als
Familien der Täter.
Concorde Civile
"Gesetz zur Nationalen Eintracht", das durch den im April 1999 gewählten
Präsidenten Abdelaziz Bouteflika auf den Weg gebracht wurde. Ein
Referendum dazu führte im September 1999 zu einer Mehrheit von 98
Prozent Ja-Stimmen. Die Concorde Civile gewährte Mitgliedern
bewaffneter islamistischer Gruppen, die sich bis zum 13. Januar 2000 den
Behörden stellten, Straffreiheit, sofern sie nicht an Morden oder
Vergewaltigungen beteiligt waren. In anderen Fällen wurde das Strafmaß
reduziert. Zugleich gab es eine soziale Rehabilitierung der Täter. Analoge
Regelungen für die Opfer des islamistischen Terrors wurden nicht
getroffen.
Aber es gibt auch andere Gründe für die Opferorganisationen, die Concorde
Civile selbst, deren Grundanliegen sie durchaus mittragen, zu kritisieren.
Bislang hat der Preis für den labilen inneren Frieden Algeriens vor allem
darin bestanden, dass kein einziger Täter vor Gericht stand - ein Indiz
dafür, dass keine öffentliche Debatte über die Ursachen und die
Bekämpfung des Terrorismus stattfindet, und für den im Land seit nunmehr
drei Jahrzehnten herrschenden Kompromiss zwischen Modernisierern und
Traditionalisten (letztere mit unübersehbar "integristischen" Zügen/s.
Manifest). Und obwohl die Intensität des Terrors nachgelassen hat -
Bomben explodieren immer wieder. Am 26. Januar, als die Internationale
Föderation der Vereine von Terroropfern (FIAVT) ihren Kongress in Algier
beginnt, verursacht ein Sprengsatz im Zentrum mehrere Verletzte.
Man könnte meinen, dass die Attentate vom 11. September die Position
der Opferorganisationen in Algerien gestärkt hätten, doch dies ist nur
bedingt der Fall. Wie groß die Kluft ist zwischen ihrem Anspruch, ihre
demokratische Perspektive öffentlich zu vertreten, und dem Willen des
Staates, den Konflikt herunterzuspielen, zeigt sich gleich zu Beginn der
Tagung. Als Cherifa Khedar von der algerischen FIAVT politische Mängel
der Concorde Civile analysieren will, wird ihr unter dem Vorwand, sie habe
die Redezeit überschritten, das Mikrophon abgeschaltet. Trotz empörter
Reaktionen der Zuhörer kann sie ihren Exkurs nicht beenden.
Importierter Krieg um Hegemonie
Nach diesem mehr als ärgerlichen Zwischenfall, den freilich am nächsten
Tag die Presse öffentlich macht, kommen Vertreter von Terroropfern aus
Spanien, Irland und Italien zu Worte und offenbaren eine weiteres Problem.
Natürlich ist es verständlich und aus Sicht der Opferfamilien auch nützlich,
dass die algerischen Vereine als Mitglieder der FIAVT anerkannt sind.
Zugleich aber wird dadurch genau jene verengte technisch-militärische
Sicht auf den Terrorismus befördert, die in den USA - wie im Westen
überhaupt - derzeit favorisiert wird: die verschiedenen Phänomene des
Terrorismus werden auf ihre "gewalttechnische Seite" reduziert, die von
Land zu Land sehr unterschiedlichen Ursachen kaum noch analysiert. Im
Fall Algeriens geradezu verwerflich, weil dessen Spielart des Terrorismus
eben nicht nur soziologisch genau zu ermittelnde Quellen auf nationaler
Ebene hat. Im Unterschied zu Spanien, Irland und Italien ist zugleich die
Instrumentalisierung und Finanzierung durch supranationale Kräfte
offensichtlich: die Netze des wahhabitischen Islamismus. In Algerien
kollidierten die Hegemonieansprüche Saudi-Arabiens und des Iran, was die
Aufrüstung der Guerilla beförderte. Bis heute sind die importierten
wahhabitischen und schiitischen Riten deutlich erkennbar.
Armée Islamique du Salut (AIS)
Bewaffneter Arm des Front Islamique du Salut (Islamische Heilsfront/FIS),
als der nach seinem Verbot 1992 zum gewaltsamen Widerstand im
Untergrund überging. Gemäß der Doktrin des FIS erteilte der AIS einer
Idee der Volkssouveränität eine scharfe Absage. Wo das Volk herrsche,
schrieb mit Ali Benhadj einer der FIS-Gründer, könne nicht Gott herrschen.
So richteten sich AIS-Überfälle auch immer wieder gegen Gemeinden, die
sich den islamistischen Doktrinen nicht unterwarfen. 1997 verkündete der
AIS einen einseitigen Waffenstillstand, der im Juni 1999 von der
Regierung in Algier offiziell anerkannt wurde.
So fehlt es denn auch auf dem FIAVT-Kongress nicht an Versuchen, die
griffige militärtechnisch Sicht durchzusetzen. Claude Moniquet,
CNN-Berater aus Frankreich, verlangt beispielsweise, "jegliche Gewalt
gegen Zivilisten" als Terrorismus zu brandmarken. Damit könnten die
Algerier ihrem eigenen Unabhängigkeitskampf in den fünfziger Jahren
abschwören. Ebenso unannehmbar ist die - in den westlichen Medien
heute immer stärker betriebene - pauschale Verurteilung des
palästinensischen Widerstands als Terrorismus, ohne dass das
staatsterroristische Vorgehen Israels gegen die völkerrechtlich
sanktionierten Rechte der Palästinenser ähnlich beurteilt wird. Dabei sollte
gerade der "Palästinensische Terrorismus" mit äußerster Differenziertheit
analysiert werden. Antoine Sfeir, der aus dem Libanon stammende Direktor
der in Frankreich erscheinenden Cahiers de l´ Orient stellt in seinem
ausgezeichneten Vortrag über die hegemoniale Strategie und das
Finanzgebaren des Wahhabismus deutlich heraus, dass gerade der
terroristische Teil der palästinensischen Résistance ebenfalls von dieser
Seite finanziert wird.
Islamistische Protektorate in Westeuropa
Wenn ihnen das Mikrophon freigegeben wird, haben die Algerier schon zu
Zeiten des Einparteiensystems des FLN nie gezögert, rückhaltlos ihre
Meinung zu sagen. So kommen Positionen, die durch die
Organisationsstruktur der Tagung ins Abseits zu geraten drohen,
gebührend zur Sprache. In der Tatsache, dass ausgerechnet Gäste aus
den USA fehlen, erkennt das Publikum eine vom algerischen Staat
dominierte "Einladungspolitik". Den seit dem 11. September möglich
gewordenen außenpolitischen Prestigegewinn will man offenkundig den
Opferorganisationen nicht gönnen, sondern sich selbst reservieren.
Breit diskutiert wird die erhebliche Unterstützung, die der algerische
Islamismus durch das Wirken von Ait Ahmeds Front des Forces
Socialistes (FFS) im Ausland erfahren hat. Die Partei vertrat die
Auffassung, nicht die islamistische Guerilla, sondern die algerische Armee
sei Verursacher der Massaker. Die geschickte Vermittlung dieser Position
über wissenschaftliche Organismen, besonders in Frankreich und das
Internet (Algeria Watch), haben bis zum 11. September die Politik der
Sozialistischen Internationale (SI), aber auch solcher Staaten wie England,
Deutschland und der Schweiz zur Duldung, teilweise auch zur
Unterstützung der islamistischen Netzwerke entscheidend beeinflusst.
Obwohl hier Richtigstellung vonnöten ist - zu der sich viele westliche
Medien bislang nicht veranlasst sehen - sollen Polizei und Armee Algeriens
nicht vom Vorwurf schwerer Übergriffe freigesprochen werden. Viele
Teilnehmer der Tagung hoffen denn auch, dass der Terrorismus durch eine
weitere Stärkung der Zivilgesellschaft in Algerien und anderswo
zurückgedrängt werden könne. Saida Benhabyles, Vorsitzende des
Vereins zur Förderung der Frauen auf dem Land, erinnert daran, dass der
Terrorismus seine entscheidende Schwächung 1994 weniger durch die
Zivilgesellschaft als den Widerstand der einfachen Leute gegen den
Schulstreik erfahren hat. Obwohl Hunderte Lehrer und Schüler ermordet
und insgesamt 800 Schulen in Brand gesteckt wurden, hatten damals
unzählige Mütter den Mut, ihre Kinder zum Unterricht zu begleiten.
Groupe Islamique Armé (GIA)
Abspaltung des AIS. GIA-Formationen richteten seit 1994/95 ihren Terror
gegen Dorfgemeinschaften, die früher den AIS unterstützt hatten. Ende der
neunziger Jahre verweigerte der GIA kategorisch einen Waffenstillstand
und setzte den Guerillakampf als "letztes Bollwerk gegen die Barbarei" fort.
Bereits Ende November 1995 hatten Feme-Gerichte des GIA alle
FIS-Führer zum Tode verurteilt, weil sie den Heiligen Krieg gegen die
Regierung verraten hätten. Der GIA setzte seinen Terror trotz der Concorde
Civil und der damit verbundenen Amnestie fort - die Zahl der GIA-Opfer seit
Ende 2000 wird auf über 2.500 geschätzt.
Aus: Freitag 08, 15. Februar 2002
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