Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Der Terror wird bleiben"

Werner Ruf über das Amnestiegesetz in Algerien, die Bedeutung des Öls und die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit (Interview)

Die algerische Regierung will mit einer Versöhnungscharta einen Schlussstrich unter ein Jahrzehnt Greuel und Gewalt durch das algerischen Militär und Islamisten während des rund zehnjährigen Bürgerkriegs ziehen. Kritik an diesem Gesetz kommt von Werner Ruf. Im Interview mit Christa Hager für die Wiener Zeitung "Der Standard" (www.derstandard.at) schildert er unter anderem, dass die Verantwortlichen trotz des Gesetzes nicht zur Rechenschaft gezogen werden, sondern vielmehr in ein normales Leben zurückgeschleust werden sollen.
Wir dokumentieren im Folgenden das Gespräch.



derStandard.at: Kann mit der "Charta für den Frieden und nationale Versöhnung", dem Amnestiegesetz, ein Schlussstrich unter die Bürgerkriegsvergangenheit gesetzt werden oder dient die als Maulkorb für die Angehörigen der Opfer?

Werner Ruf: Dieser "Versöhnungsprozess" ist mehr als nur ein Maulkorb, aus zweierlei Gründen: Ohne die Aufarbeitung der Geschichte durch eine juristische Aufarbeitung, wird man keinen Frieden finden. In Algerien wird über die Grausamkeiten geschwiegen. Es gab über 200.000 Tote, niemand spricht von den Verletzten, auch von den psychisch Verletzten, die mit ansehen mussten, wie ihre Familien auf bestialische Weise umgebracht wurden.

Zum zweiten ist dieses Amnestiegesetz auch ein Mittel dazu, die militärischen Sciherheitsdienste, die bewaffnete Gruppen unterwandert hatten, in ein ziviles Leben zurückzuschleusen. Einer der zentralen Punkte dieses Amnestiegesetzes, der Umgang mit den Verschwundenen, verdeutlicht dies. Es gibt etwa 14.000 bis 18.000 Menschen, die seit den blutigen Auseinandersetzungen abgängig sind, der größte Teil davon dürfte auf Kosten der Armee gehen, bzw. des militärischen Sicherheitsdienstes. Zwar hat der Staat anerkannt, dass 6.417 der verschwundenen auf das Konto der Sicherheitskräfte gehen, der Leiter der staatlichen Untersuchungskommission hat dazu erklärt, dass der Staat verantwortlich, aber nicht schuldig sei.

Die Menschen, deren Angehörige verschwunden sind, sollen mit Entschädigungszahlungen ruhig gestellt werden, während die Verantwortlichen in den Genuss einer Amnestie kommen. Dieses Vorgehen kann das Problem nicht lösen. Denn die Tatsache, dass jemand verschwunden und nicht tot ist bzw. nicht für tot erklärt werden kann, ist ein enormes psychologisches Problem. Untersuchungen in Argentinien zeigen, dass die Angehörigen immer noch eine Spur einer Hoffnung haben, dass die Verschwundenen wieder kommen könnten.

derStandard.at: Eine Versöhnungskommission wie nach dem Vorbild Südafrikas würde also nicht funktionieren?

Ruf: Doch, nur in Algerien ggibt es diese nicht. Wenn man die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zieht, kann es keine Versöhnung geben, gerade dann, wenn die Menschen wissen, dass diese Taten dem Staat zuzuschreiben sind. Die Hypothek einer schweren moralischen Schuld bleibt bestehen. Hinzu kommt, dass die Wut derer, deren Angehörige umgebracht wurden und verschwunden sind, andauert. Der Grund des Konflikts und das Misstrauen gegen eine solche Staatsgewalt, die im Grunde genommen Verbrechen deckt, bleibt. Damit wird die Gewalt vielleicht zurückgehen, aber niemals aufhören und vielleicht sogar wieder kommen.

derStandard.at: Algerische NGOs fordern ein UN-Sondertribunal. Gibt es dafür internationale Unterstützung?

Ruf: In verschiedenen Ländern gibt es einige Gruppen, die daran arbeiten. So gab es zum Beispiel ein Algerien-Tribunal in Frankreich. Während der blutigen Auseinandersetzungen wurde immer wieder eine internationale und unparteiische Untersuchungskommission gefordert worden, die Algerien jedoch nie zugelassen hat, unter Berufung auf seine Souveränität. Das Regime hat sich immer dagegen gesperrt, dass objektiv und transparent untersucht wird, was wirklich geschehen ist.

derStandard.at: Algerien ist durch seine Ölexporte ein reiches Land, aber rund die Hälfte der Bevölkerung ist sehr arm. Inwieweit fördert die soziale Polarisierung eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Konflikte und damit verbunden staatliche Repressionen?

Ruf: Der Präsident, wie alle bisherigen Staatsoberhäupter Algeriens, wurde von der Militärführung gemacht, ist von ihr abhängig ist und kann von ihr wieder abserviert werden, wenn es die Umstände erfordern. Algerien ist ein reiner Rentenstaat, seine Ökonomie basiert ausschließlich auf der Produktion von fossilen Energieträgern. Diese machen rund 98 Prozent der Staatseinnahmen aus. Damit wird nicht nur alles bezahlt, sondern auch verhindert, dass sich eine nationale Ökonomie entwickeln kann. Dasselbe Problem gibt es auch in Saudi Arabien oder in den Golfstaaten: man kann alles kaufen, aber es gibt keinerlei eigenständige ökonomische Entwicklung. Es gibt weder Produktion noch Handwerk, die Landwirtschaft liegt danieder.

Das Land muss über 80 Prozent seiner Grundnahrungsmittel und alle seiner Pharmazeutika importieren. Dieses Problem ermöglichte ein Netz der Korruption, das quasi den ganzen Staat überlagert hat und das dort kumuliert, wo die Entscheidungen getroffen werden: beim Militär. Das war auch der Grund für die Protestwahlen, die der FIS (der islamischen Heilsfront) 1991 die vielen Stimmen gebracht hat.

Die Islamisten wollten diesem Korruptionssumpf ein Ende machen. Dies ist auch der Grund, warum die Militärs die Macht nicht aus der Hand geben können. Auch die Vergangenheit kann deswegen nicht aufgearbeitet werden. Damit würden die Netzwerke der Korruption ans Tageslicht kommen. Nachdem es keine Ökonomie gibt, werden auch die riesigen Einnahmen aus den Kohlenwasserstoffen allenfalls die Korruptionsnetze alimentieren, aber niemals bei der Masse der Bevölkerung ankommen. Die einzige Lösung wäre ein radikaler politischer Wechsel. Der kann aber unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht stattfinden.

derStandard.at: Profitieren Islamisten von dieser Situation?

Ruf: Die islamistische Propaganda im Land nimmt zu. Dies zeigt sich vor allem am Ausschluss der Frauen vom Berufsleben, ausgenommen davon sind die höheren Positionen der Mittelschichten und der im Apparat integrierten.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass in dieser Region Algerien immer schon das mit Abstand puritanischste Land war. Die Islamisten haben seit 1989 ihre legalen Parteien, die auch an der Regierung der Generäle beteiligt waren und sind. Vorausgesetzt, sie waren dazu bereit, mitzuspielen und die Korruption laufen zu lassen, um sich für ein Stück des Kuchens daran zu beteiligen.

derStandard.at: Wie steht es um die Pressefreiheit?

Ruf: Es gibt eine relativ freie Presse, sie ähnelt jedoch zum Teil der in Russland: Medien vertreten die Interessen bestimmter Clans, die an der Macht sind und einander bekämpfen. Doch wenn es um das Allgemeininteresse der Clans geht, sind die Journalisten wieder ruhig. Diejenigen, die den Dingen weiter nachgehen, kommen hingegen immer mehr unter Druck. Im letzen Jahr sind an die 50 Journalisten inhaftiert worden. Die Pressefreiheit wird extrem abgebaut und orientiert sich immer mehr am tunesischen Modell der totalen Repression.

derStandard.at: Es gibt nach wie vor organisierte Morde und Überfälle, besonders in den ländlichen Gebieten. Welche Rolle spielt die ethnische Zugehörigkeit dabei?

Ruf: Das ist mit Sicherheit ein soziales Problem, hervorgerufen durch die Verarmung und der damit verbundenen Kriminalität. Das Regime hingegen beschwört immer wieder, dass es sich dabei um "Restterrorismus" handle. Dieser ist funktional, um weiterhin den Ausnahmezustand aufrechtzuerhalten, um der Polizei und den Sicherheitsdienste jede Willkür zu erlauben. Der Terror wird bleiben.

Was die ethnischen Fragen angeht, so gibt es in der Kabylei tatsächlich eine immer stärker werdende Autonomiebestrebung, die mit der sozialen Verelendung und der unglücklichen und extrem voluntaristisch betriebenen Arabisierungspolitik zu tun hat.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Entwicklung interessant. So tauchte eine neue und äußerst dubiose Gruppierung auf, die GSPC (Le Groupe Salafiste pour la Prédition et le Combat, von der man nicht genau weiß, woher sie so plötzlich kommt. Laut algerischem Sicherheitsdienst operiere sie vor allem im Sahelraum, wo Algerien gemeinsam mit den USA zur "Bekämpfung des Terrorismus" in den Randstaaten der Sahara eine große Pan-Sahelinitiative aufgebaut hat. Diese Terroristenbekämpfung fällt in einer sehr seltsamen aber vielleicht signifikanten Weise mit den Interessen der USA zur Kontrolle der Erdölproduktion in dieser Region zusammen. Auch dient die Existenz dieser obskuren Gruppierung gleichzeitig als Vorwand dafür, die Sicherheitsgesetze nicht aufzuheben.

derStandard.at: Gab es in Algerien Proteste gegen das in Frankreich geplante und wieder verworfene revisionistische Gesetz, in Schulbüchern den französischen Kolonialismus in Algerien zu beschönigen?

Ruf: Es gab massive Proteste der Regierung und heftige Kampagnen, durch die man ganz gezielt die nationalistische Strömungen bediente. Für die Armee ist es wichtig, ihre Legitimität als Nachfolgerin des Befreiungskampfes auszuweisen und mit antifranzösischen Parolen zu agitieren. Die Offiziere waren ja alle Mitglieder der Befreiungsarmee.

Was dabei unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass gerade die Offiziere dieser Armee während des Algerienkrieges nicht gekämpft haben, gar nicht kämpfen konnten. Sie waren in Tunesien und Marokko stationiert und Frankreich hatte durch den Zaun- und Mauerbau entlang der Grenzen verhindert, dass diese Einheiten in das inneralgerische Kriegsgeschehen eingreifen konnten.

derStandard.at: Die Ereignisse des 17. Oktobers 1961, als die französische Polizei Hunderte Algerier misshandelte, Schwerverletzte und Tote in die Seine warf, sind jene im Bewusstsein der AlgerierInnen verankert?

Ruf: Die Hälfte der Algerier ist 17 Jahre und jünger und auch die heute 40jährigen wissen davon nicht mehr viel. Doch die Emigration nach Frankreich hat immer eine zentrale Rolle gespielt. All diejenigen, die nicht emigrieren konnten, möchten nach wie vor dorthin. So spielen diese fürchterlichen Ereignisse bei der masse der Menschen kaum eine Rolle. In der nationalistischen Propaganda sind sie aber präsent, genauso wie die grässlichen Massaker, die Frankreich am 8. Mai 1945 in Ostalgerien verübt hat.

Sie sind Elemente der nationalistischen Propaganda und zeugen im Grunde von einer Nichtaufarbeitung der Geschichte - auf beiden Seiten: Frankreich will an seinen kolonialen Gräueltaten nicht erinnert werden, und auch Algerien will nicht ins komplizierte Detail gehen, weil man den Fakt für nationalistische Propaganda braucht.

derStandard.at: Welche Rolle schreiben Sie arabischsprachigen Fernsehsendern während der Unruhen in den Vororten der französischen Großstädte zu?

Ruf: Keine. Al Jazeera gilt im Westen meist als der Sender, der Bin Laden- Videos reproduziert. In Wirklichkeit ist Al Jazeera derjenige TV-Kanal, der von allen arabischen Regierungen gehasst wird wie kein anderer. Er berichtet als einziger über die dortigen Verhältnisse, über Korruption und Repression. In Algier wurde das Büro von Al Jazeera vor acht Monaten geschlossen, die Sendungen werden so gut es geht in allen arabischen Staaten gestört. Und deswegen ist dieser Sender glaubwürdig, weil er die Verhältnisse zuhause anprangert und Informationen bringt, die direkt mit den Menschen zu tun haben.

derStandard.at: Waren die landesweiten Unruhen ein "postkolonialer Aufruhr"? Inwieweit deutet der in den Medien häufig in diesem Zusammenhang verwendete Begriff "Jugendliche" auf einen Euphemismus hin, um die Dinge nicht beim Namen zu nennen?

Ruf: Das Staatsbürgerschaftsgesetz besagt: Franzose ist, wer auf französischem Boden geboren ist. In den Vorstädten leben die meisten Menschen in einer sozialen Diskriminierung, die entlang von ethnischen Grenzen verläuft: Araber, hauptsächliche algerische, Schwarzafrikaner usw. Die Leute wollen war aber nichts anderes als ihre Rechte als französische Staatsbürger in Anspruch zu nehmen. Ich sehe in dieser Rebellion einen Akt des Integrationswillens, der sich nicht nur auf den Reisepass bezieht, sondern auch auf soziale Rechte wie Arbeitsplätze, Ausbildung, Wohnsituation. Das soziale Problem wurde hier eindeutig ethnisiert.

Als "La jeunesse de banlieue" werden die Leute bezeichnet, die aus der Immigration hervorgegangen sind und als solche auch gemeint sind. Das ist ganz klar eine ethnische Diskriminierung, durch die Schwarze und Araber alle in einem Topf geworfen wurden. Dabei ist jedoch der Hass gegen die Arabischstämmigen wahrscheinlich am Heftigsten, weil die französische Polizei ihre rassistischen Traditionen aus dem Algerienkrieg mitgenommen hat.

* Werner Ruf war bis 2003 Professor für Internationale Politik an der Universität Kassel und ist Algerien-Spezialist. Mitglied der AG Friedensforschung.

Quelle: Der Standard, online-Ausgabe, 13. Juli 2006; http://derstandard.at


Zurück zur Algerien-Seite

Zur Islam-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zur Seite "Erdöl, Energie, Ressourcen"

Zurück zur Homepage