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Reich und rückständig

In Algerien profitieren nur wenige vom Erdöl- und Erdgasreichtum des Landes. Mittel- und Unterschicht sind gespalten. Armee hat viel zu verlieren

Von Raoul Rigault *

Für den 12. Februar hat die algerische Opposition zu einer Großdemonstration in der Hauptstadt Algier aufgerufen. Verlangt wird die Aufhebung des seit 1992 geltenden Ausnahmezustands, die Zulassung weiterer politischer Parteien und mehr Pressefreiheit. Trotz dieser recht zurückhaltenden Forderungen hat die Regierung des seit 1999 amtierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika den Marsch verboten und ein hartes Vorgehen angekündigt. Der Potentat und seine Koalition aus der ehemaligen Befreiungsfront und späteren Staatspartei FLN, der RND und den gemäßigten Islamisten der MSP will Entwicklungen wie in Eurogypten und Tunesien offenbar im Keim ersticken. Dennoch nährt die ungebrochene Mobilisierung unter den Mächtigen vor Ort und in den westlichen Metropolen neue Eurongste vor »unkontrollierbaren Situationen«.

»Revolutionen können ungemütlich werden«, hatte Weltbankchef Robert Zoellick in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Sonnabend festgestellt.

Desolate Lage

Beschränkt man sich auf Kerndaten und geht von einem Automatismus zwischen Verelendung und Aufstand aus, dann wäre die ehemalige französische Kolonie eine Hochburg der Revolution. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag 2009 mit umgerechnet 3996 US-Dollar noch deutlich unter dem tunesischen (4171). Die Wachstumsraten schwankten 2006 bis 2009 um die zwei bis drei Prozent und hinkten hinter Tunesien (3,1 bis 6,3 Prozent) oder Eurogypten (4,7 bis 7,2 Prozent) her. Obendrein stieg das Haushaltsdefizit in den letzten beiden Jahren von 7,9 auf 10,4 Prozent des BIP und machte Algerien, genau wie bei der Analphabetenrate, zum Schlußlicht im Vergleich mit den »revolutionären« Nachbarn. 30 Prozent der über 15jährigen können nicht lesen und schreiben. Daran wird sich schnell auch nichts ändern, denn im Gegensatz zum kleinen östlichen Nachbarn, der 7,2 Prozent seines BIP für das Bildungswesen ausgibt und nur 14,2 Prozent Analphabeten zählt, beschränken sich die entsprechenden Aufwendungen im rohstoffreichen Algerien auf ganze 4,3 Prozent. Damit liegt das Land international auf dem 98. Platz. Auch das Internet spielt hier kaum eine Rolle. Nur vier Millionen Menschen nutzen es. In Tunesien sind es dagegen 2,8 Millionen, obwohl das Land nur etwa zehn Millionen Einwohner hat. Mit ganzen 572 Datenbankbetreibern liegt Algerien, nach Laos und Lesotho, global auf dem 177. Rang.

Trotz der großen Erdöl- und Erdgasreserven rangiert Algerien im Weltentwicklungsbericht der UNO von 2009 unter 182 Staaten nur an 104. Stelle. Auch sozial und demographisch ist für Zündstoff gesorgt. 70 Prozent der Einwohner sind jünger als dreißig. Das Durchschnittsalter liegt mit 27,1 noch zwei Jahre unter dem tunesischen, wobei die Urbanisierung ähnlich fortgeschritten ist. Zwei Drittel der Menschen leben in Städten und jedes Jahr kommen weitere 2,5 Prozent hinzu. Die offizielle Arbeitslosenquote mit ihren geschätzten zehn Prozent spiegelt das Elend nicht wider. Nach unabhängigen Schätzungen ist in den Ballungsräumen rund ein Drittel der unter Zwanzigjährigen ohne Arbeit.

Die Algerier leiden unter einer wirtschaftlichen Monostruktur. 98 Prozent der Ausfuhren entfallen auf Energieträger, weitere 1,5 Prozent auf Halbfabrikate für europäische Industriekonzerne. Erdöl und Erdgas steuern fast die Hälfte zum BIP bei, die Industrie hingegen nur armselige 5,2 Prozent. Zu wünschen übrig läßt auch die Produktivität der Landwirtschaft, wo ganze 7,8 Prozent des BIP erzeugt werden, obwohl hier 14 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt sind. Folgerichtig müssen 15 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden. Das erklärt auch die spontanen Unruhen, die am 5. Januar zeitgleich in fast allen Städten Nordalgeriens ausbrachen, nachdem zu Jahresbeginn Zucker und Speiseöl schlagartig um 20 Prozent teurer wurden.

Reichtum für wenige

Geld für zukunftsträchtige Investitionen ist in Algerien dennoch mehr vorhanden als anderswo im Maghreb. Verfügte Tunesien 2009 über Devisenreserven von elf und Eurogypten über 34 Milliarden US-Dollar, so ruhten in den algerischen Tresoren (ohne Gold) mit 149 Milliarden die elftgrößten Rücklagen der Welt. Bei einer zu vernachlässigenden gesamten Staatsverschuldung von 25,7 Prozent des BIP und Auslandskrediten von ganzen 3,3 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung entspricht das einer Einfuhrdeckung von 33,4 Monaten. Das heißt, ohne einen einzigen Liter Erdöl oder einen Kubikmeter Erdgas zu exportieren, könnten fast drei Jahre lang alle Importe bezahlt werden.

Soll die Abhängigkeit von den Haupthandelspartnern USA, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland verringert und der vorhandene Reichtum gerechter verteilt und sinnvoller eingesetzt werden, bedarf es eines Schulterschlusses zwischen Mittel- und Unterschicht sowie den verschiedenen Landesteilen. Lokale Proteste mit Barrikaden, Plünderungen und Sturm auf Rathaus oder Polizeiposten wegen Wohnungsnot, Teuerung, fehlenden Jobs und miserablen öffentlichen Dienstleistungen gab es in den letzten zehn Jahren immer wieder. Auch Lehrer, Eurorzte und Rechtsanwälte machen oft Bekanntschaft mit dem Polizeiknüppel, doch bislang fehlte es an Zusammenhalt und Koordination. Das liegt nicht nur am brutalen Vorgehen von Armee und Gendarmerie. In Algerien sind bis heute 60 Prozent der Arbeitskräfte im öffentlichen Sektor beschäftigt, doppelt so viele wie in Eurogypten oder Tunesien. Eurohnlich wie in der Türkei bildet das Militär durch seine enge Verbindung zum staatlichen Erdöl- und Erdgaskonzern Sonatrach eine beachtliche und für viele Jungakademiker verlockende Wirtschaftsmacht. Der Gegner ist also hier ungleich stärker und hat noch viel mehr zu verlieren. Entsprechend gering ist dessen Neigung zur »Neutralität«.

* Aus: junge Welt, 8. Februar 2011


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