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Machtkampf in Algier

Kabinettsumbildung und breites Parteienbündnis: Präsident Bouteflika bringt sich für die Präsidentschaftswahlen 2014 in Stellung

Von Sofian Philip Naceur, Algier *

Algeriens Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika, in seiner dritten Amtszeit als Marionette der Militärs verschrien, hat sich wieder Oberwasser verschafft. Im Frühjahr hatte der gesundheitlich angeschlagene 76jährige Chef der mächtigsten Partei des Landes, der Nationalen Befreiungsfront (FLN)nach einem Schlaganfall monatelang im Krankenhaus gelegen. Dann peitschte er Ende August eine Abstimmung im Zentralkomitee der FLN zur Wahl eines neuen Generalsekretärs durch. Nach dem unfreiwilligen Rücktritt seines parteiinternen Rivalen Abdelaziz Belkhadem, Expremier und Vertreter des gemäßigt islamistischen FLN-Flügels, war das Amt seit Januar vakant. Einziger Kandidat war Bouteflikas Vertrauter Amar Saïdani, der nach seiner Wahl betonte, er wolle »die Partei vereinen«. Mit Saïdanis Einsetzung hat Bouteflika die Kontrolle über die FLN zurückerobert und dem konservativen Parteiflügel einen herben Schlag versetzt.

Mitte September ließ Bouteflika 18 von 32 Ministern im Kabinett Premierminister Abdelmalek Sellals auswechseln. Bei der Kabinettsumbildung verloren sechs FLN-Minister, die gegen die Wahl Saïdanis opponiert hatten, ihre Posten und wurden durch Vertraute des Präsidenten ersetzt. Strategisch wichtig sind vor allem die Neubesetzungen im Innen- und Justizministerium. Sowohl der neue Justizminister Tayeb Louh als auch Innenminister Tayeb Belaiz stammen wie der Präsident selbst aus dem westalgerischen Tlemcen, der Bouteflika-Clan in Algeriens Machtapparat hat sich damit wieder politischen Spielraum verschafft. Beide Ministerien sind Schlüsselinstitutionen für Abhaltung und Kontrolle von Wahlen.

Neben der Kabinettsumbildung sorgte aber ein anderes Manöver des »Raïs« (arabisch »Präsident«) für Wirbel. Während Bouteflika weiter das Verteidigungsresort leitet, setzte er mit Armeechef Ahmed Gaïd Salah einen Vertrauten als stellvertretenden Verteidigungsminister ein und unterstellte drei Schlüsseleinheiten des mächtigen algerischen Geheimdienstes DRS direkt Salahs Kommando. Dieser Schritt wird gemeinhin als Versuch Bouteflikas gewertet, den Einfluß von DRS-Chef Mohamed »­Tewfik« Mediéne und des DRS einzuschränken, der sich seit seiner Gründung 1990 zu einem Staat im Staate entwickelt hat. Vor allem die von ­Tewfik kontrollierte Juristische Polizei (JP) ist ein Instrument, um Gegner im Staatsapparat unter Druck zu setzen. Tewfik, der die dritte 2009 begonnene Amtszeit Bouteflikas strikt ablehnte, setzte die JP auf dessen Clan an und sorgte 2010 auf Grundlage von Korruptionsanklagen für den Rücktritt zweier Bouteflika-Getreuer in der Regierung.

Der Machtkampf zwischen Tewfik und Bouteflika, den beiden starken Männern in Algeriens komplexem fragmentiertem Machtgefüge, ist Ausdruck der Rivalität zwischen Militärapparat und FLN. Seit seinem Amtsantritt 1999 war Bouteflika eigentlich der »Konsenskandidat«, der es vermochte eine Brücke zwischen dem unangefochtenen Kontrollanspruch der Armee und dem Regierungswillen der FLN zu schlagen und so die Machtbalance zwischen beiden Blöcken zu sichern.

Umkämpfte Position

Im April 2014 wird ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Angesichts der Machtbefugnisse des Amtes ist diese Position stets heiß umkämpft. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes wird nicht ausgeschlossen, daß Bouteflika erneut antritt. Denn: »Er will ein viertes Mandat. Bouteflika ist besessen davon, an der Macht zu sterben«, meint Saïd Sadi, früher Chef der Sammlung für Kultur und Demokratie (RCD). Auf jeden Fall wird Bouteflikas Votum wegweisend sein. Egal, ob er oder Sellal antritt, die FLN wird sich nach dem vom Präsidenten gewonnenen parteiinternen Machtkampf seinem Diktat beugen. Die algerische Zeitung Al Watan unterstreicht, Bouteflika habe »einen Apparat in Stellung gebracht, der ihm die volle Kontrolle über die Wahl erlaube«.

Während Sellal die Umbesetzung der Regierung ausdrücklich begrüßt, wird sie vom Chef der moderat islamistischen Bewegung für die Gesellschaft und Frieden (MSP), Abderezzak Mokri, als »bedeutungslos« bezeichnet. Das Land brauche keinen Regierungswechsel, sondern eine echte Reform. Politische Macht wird in Algerien gemeinhin nicht demokratisch ermittelt, sondern hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Bei früheren Wahlen waren »geschwängerte Urnen« die Regel: Ein schon vor Öffnung der Wahllokale gefüllter Bodensatz an Stimmzetteln sollte das gewünschte Ergebnis garantieren. Bouteflika kann mit der Ernennung Belaiz‘ und Louhs diesen Prozeß maßgeblich kontrollieren. »Das ist ein Kriegskabinett zur Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahlen«, meint der Politanalyst Rachid Grim.

Die MSP war von 1997 bis 2012 Koalitionspartner von FLN und Nationaler Demokratischer Sammlung (RND) und verlor bei den Parlamentswahlen 2012 trotz des Zweckbündnisses mit zwei kleineren gemäßigt islamistischen Parteien, der »Grünen Allianz«, massiv an Stimmen. Die Partei sitzt seither in der Opposition. Ihr politischer Absturz ist eng verknüpft mit dem Sturz des ehemaligen FLN-Schwergewichts Belkhadem. Die MSP sah sich angesichts des »arabischen Frühlings« und des Aufstiegs moderat islamistischer Kräfte in der Region vor den Parlamentswahlen 2012 im Aufwind und verlangte offenbar mehr politische Macht. Bouteflika lehnte ab, und das Bündnis zerbrach.

Die MSP muß derweil zuschauen, wie ein anderer Akteur aus dem islamistischen Lager an Einfluß gewinnt. Amar Ghoul, seit 1997 Parlamentsabgeordneter der MSP und von 1999 bis 2012 Inhaber mehrerer Ministerämter, verließ 2012 die Organisation und gründete die Sammlungsbewegung für Algeriens Hoffnung (TAJ). Mit dem »aufsteigenden Stern« Ghoul an der Spitze versucht sich die Partei als unverbrauchte pluralistische Kraft zu profilieren, die sich als »islamisch, nationalistisch, modern und demokratisch« begreift.

Bei der Regierungsumbildung wurde Ghoul als Minister für öffentliche Bauarbeiten abberufen und als Transportminister eingesetzt. Auch auf diesem Posten hat Bouteflikas Vertrauter großen Einfluß auf die staatlichen Infrastrukturprogramme, die vor allem vor Wahlen ausgeweitet werden. Staatlich finanzierte Bauprojekte gelten als äußerst korruptionsanfällig. Doch »stehlen ist besser als töten«, meint Menschenrechtsanwalt Salah Debouz und spielt darauf an, daß Bouteflika zugute gehalten wird, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre beendet zu haben.

Bouteflika nutzt die Rückeroberung der FLN und den Punktsieg über den DRS und beginnt bereits mit der Bildung einer neuen »präsidialen Allianz«, um bei den Wahlen 2014 ein breites Parteienbündnis hinter sich oder einen ihm ergebenen Nachfolger in Stellung zu bringen. Derzeit besteht wenig Zweifel, daß neben der FLN, dem RND und der trotzkistischen Arbeiterpartei (PT) auch die TAJ mit von der Partie sein wird. Die Tageszeitung Le Soir d’Algérie bezeichnete die Gespräche zwischen FLN und TAJ als »Auftakt der operationellen Phase zur Bildung einer neuen präsidialen Allianz«. Die TAJ sei »unabdingbar« für die Allianz, denn Bouteflika braucht zwingend eine Kraft aus dem islamistischen Lager.

* Aus: junge Welt, Freitag, 11. Oktober 2013


Ruhe durch Geld

Von Sofian Philip Naceur **

Der »Arabische Frühling« erfaßte 2011 die gesamte Region, doch in Algerien blieb es ruhig. Das Land ist weit entfernt von einer Massenrevolte. Die größte regimekritische Demonstration lockte im April 2011 in Algier nur rund 3000 Menschen auf die Straße und wurde zur Machtdemonstration des Staates, der die Hauptstadt mit 30000 Polizisten in eine Festung verwandelte. Das Land erlebte vor 25 Jahren seinen demokratischen Frühling, als am 5. Oktober 1988 Massenunruhen gegen die Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) das Land erschütterten. Damals war der Staat ob des niedrigen Ölpreises pleite. Doch anders als Tunesien und Ägypten schwimmt Algeriens Regierung heute im Geld. Das Land ist einer der größten Energieversorger Europas und dank des hohen Weltmarktpreises für Erdöl finanziell unabhängig.

Der Frust der Menschen über politische Ohnmacht, Korruption und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit entlädt sich zwar immer wieder in Protesten, doch verhält sich die Regierung seit 2011 äußerst geschickt, pumpt Geld in die Gesellschaft und versucht, den Unmut der Menschen zu kanalisieren. Die Regierung erhöhte Subventionen auf Nahrungsmittel und treibt Infrastrukturprojekte voran, allen voran Autobahnen, wie die Ost-West-Trasse von Algier nach Oran. Algier hat seine erste Metrolinie und Oran eine moderne Straßenbahn. Auch die Müllbeseitigung hat Fortschritte gemacht.

Algeriens größte soziale Probleme jedoch sind Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit. Seit Jahren steckt der Staat Milliarden in den sozialen Wohnungsbau, um Menschen mit niedrigem Einkommen bezahlbaren Wohnraum bereitstellen zu können. Doch um den Zuschlag für diese Objekte zu bekommen, müssen Beamte oder Politiker bestochen werden. Im Oktober kündigte Premierminister Abdelmalek Sellal eine Intensivierung sozialer Wohnbauprojekte an. »Wir denken an die Zukunft Algeriens, wir denken langfristig und nicht an morgen oder die Urnen«, sagte Sellal, betonend, die Ausweitung der Bauprojekte habe nichts mit den 2014 anstehenden Präsidentschaftswahlen zu tun habe.

Nachdem das Regime jahrelang aus Angst vor dem Einflußgewinn unabhängiger Gewerkschaften vermied, das Land zu industrialisieren, strömen heute zahlreiche neue Firmen ins Land. Fabriken und Filialen ausländischer Konzerne werden eröffnet, doch verringert die kosmetische »Wirtschaftsöffnung« bislang keineswegs die Arbeitslosigkeit. Unabhängige Gewerkschaften sind dem Regime ein Dorn im Auge. Sie sind ein Aktivposten bei Antiregimeprotesten und bedrohen das Machtmonopol von Armee und FLN. Auch wenn sich der Staat unfähig zeigt, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekommen, hat die Regierung dennoch genug Geld, um sich Afrikas größten Rüstungsetat leisten zu können.

** Aus: junge Welt, Freitag, 11. Oktober 2013


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