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Algerien tritt auf der Stelle

Bouteflikas Reformkurs ohne greifbare Ergebnisse

Ein Jahr nach der Präsidentenwahl in Algerien haben sich die mit dem neuen Kurs Bouteflikas verbundenen Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt. in der Schweizer Tageszeitung "Neue Züricher Zeitung" (NZZ) erschien am 10. Juni ein Artikel, der den Reformprozess kritisch unter die Lupe nimmt.

Reformen in Algerien ins Stocken geraten
Präsident Bouteflikas Therapie bleibt verbal

Gut ein Jahr nach den merkwürdigen Präsidentenwahlen ist der Reformprozess in Algerien ins Stocken geraten. Präsident Bouteflika kann sich nicht mehr mit dem Hinweis auf die übermächtigen Militärs entschuldigen. Seine eigene Regierungskunst steht jetzt zur Diskussion. Die Frage, wie mit den Islamisten umgegangen werden soll, ist ungelöst.

Mr. Algier, Anfang Juni
«Wann wird Präsident Bouteflika endlich Algerien einen Staatsbesuch abstatten?» Eine algerische Zeitung spielt mit dieser ironischen Frage auf die häufigen Auslandreisen des Präsidenten an, der sich ihrer Meinung nach etwas mehr um Algerien selbst kümmern sollte. Mitte Juni steht jetzt der lang erwartete und mühsam ausgehandelte Besuch in Paris bevor, der wieder einmal die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen besiegeln soll. Westliche Diplomaten in Algier räumen ein, dass Algerien seine langjährige Isolierung langsam überwinde. Die Algerier sind weniger stolz auf diesen Erfolg im Ausland, denn ihre eigene Lage hat sich damit nicht wesentlich verbessert. Im Gegenteil: Wegen ausbleibender Wirtschaftsreformen geht es ihnen schlechter.

Regierung ohne Regierungsprogramm

Ihre Hoffnung auf Bouteflika war trotz dem Wahlbetrug im April 1999 einige Monate lang gross geblieben. Man hoffte auf ihn, weil der Kandidat der allmächtigen Sécurité militaire (SM) die Missstände im Land, zum Beispiel die Korruption und die «Basar-Wirtschaft», so offen kritisierte, wie es sonst nur die Presse tat. Bouteflika versprach Reformen und das Ende des islamistischen Terrorismus. Verwirklicht wurde wenig. Erst im Dezember bildete Bouteflika seine eigene Regierung mit Ahmed Benbitour als Regierungschef. Ein konkretes Regierungsprogramm gibt es bis heute nicht. Bouteflika erklärte: «Die Regierung bin ich.» Das hinderte ihn aber nicht daran, Benbitour wegen Passivität zu kritisieren.

«Er ist zu orientalisch für uns», meint eine Politologin. Andere Beobachter werfen Bouteflika vor, eher Finten zu erfinden, als Politik zu machen. Es heisst, dass die Militärs deshalb bereits etwas irritiert seien. Zum Beispiel hatte Bouteflika die immer wieder hinausgeschobene Regierungsbildung mit dem Widerstand der SM begründet. Aus Militärkreisen verlautet jedoch, die Generäle hätten umgekehrt Bouteflika drängen müssen, endlich sein eigenes Kabinett zu ernennen. Die im Hintergrund agierenden Militärs haben die Autorität an einen Zivilpolitiker abgetreten und behalten sich letzte Entscheidungen nur noch bei Schlüsselfragen vor. Zu diesen zählen der Kampf gegen den islamistischen Terror und die Kontrolle islamistischer Parteien, dann das Problem der Westsahara und damit die Beziehungen zu Marokko, ferner auch ein wenig die Besetzung einflussreicher Positionen wie derjenigen der korruptionsanfälligen Zolldirektion sowie die Zukunft strategischer Industrien, vor allem diejenige der staatlichen Erdölholding Sonatrach.

Reaktionäre Mechanismen

Damit ist Bouteflika nicht so eingeengt, wie er es gerne vortäuscht, wenn er wieder zu einem Rückzug gezwungen ist. Er hat es mit Zwängen und Widerständen zu tun, die andere Ursprünge haben. Der Präsident, der von 1963 bis 1978 unter Boumedične Aussenminister gewesen war, hat ein unbewegliches System und alte Mentalitäten geerbt und ist selber kein Mann demokratischer Transparenz. Zwar entstaubt er das Land langsam von seinem versteinerten Revolutionskanon, indem er zum Beispiel bekannte «Pieds noirs» (Algerierfranzosen) einlädt, verfemte Politiker wie Messali Hadj rehabilitiert und die Beziehungen mit Israel zu verbessern sucht. Bei jedem ungewöhnlichen Schritt stösst er jedoch auf feindliche Reaktionen innerhalb seiner Koalition, die sieben sehr heterogene Parteien umfasst. Bei heiklen ideologischen Fragen kann sich leicht eine reaktionäre Ablehnungsfront aus Nationalisten und Islamisten ergeben. Und nicht zuletzt muss immer auch erst die Lethargie der Bürokratie überwunden werden. «Der Kopf hat gewechselt, aber nicht der Rest», meint ein hoher Funktionär.

Im Gang ist eine Justizreform, die keine grossen Probleme aufzuwerfen scheint, weil sie vor allem technischer Natur ist. Algerien käme damit einen grossen Schritt weiter auf dem Weg zu einem Rechtsstaat. Als weitaus schwieriger kündet sich die dringend nötige Erziehungsreform an. Bouteflika hat dafür eine Kommission von nicht weniger als 158 Mitgliedern eingesetzt. Deren Breitbandkultur vom Koran bis zum Internet verspricht keine schnellen Resultate, zumal auch entschieden werden muss, ob man die von Bouteflika immer wieder missachtete Arabisierung voll durchsetzen oder das Französische wieder aufwerten will. Die Wirtschaftsreformen, die auf den Widerstand des Gewerkschaftsdachverbandes UGTA und der Monopolisten stossen, lassen derweil auf sich warten. Somit fehlt das erwünschte Investitionsklima. Die Debatte über eine Verfassungsreform ist noch in einem Anfangsstadium.

Nationale Versöhnung mit Lücken

Die wichtigste Reform, die Bouteflika, wie auch alle seine Rivalen, vor den Wahlen versprochen hatte, war eine nationale Versöhnung, das heisst das Ende des islamistischen Terrors. Das Projekt einer «concorde civile» liess er im September durch ein Referendum absegnen, das einem nachgeholten Plebiszit für den Präsidenten zwecks Auslöschung des offiziellen Wahlbetrugs gleichkam. Die Sécurité militaire und Bouteflika hatten fest geglaubt, dass der Groupe islamique armé von Zouabri und der Groupe salafiste pour la prédication et le combat von Hattab auf das Angebot einer Teilamnestie eingehen und sich bis zum Stichdatum vom 13. Januar ergeben würden. Das war, mit Ausnahme der bereits zuvor befriedeten Armée islamique du salut von Mezrag, nicht der Fall. Obwohl stark reduziert und von der Armee immer mehr bedrängt, setzen die beiden Terrororganisationen ihre Schlächtereien fort. Jeden Monat fallen immer noch 200 bis 300 Personen, Terroristen eingerechnet, der Gewalt zum Opfer. Diskrete Verhandlungen mit Zouabri und Hattab erwiesen sich als unmöglich; die Verlängerung der Amnestie war damit praktisch wirkungslos. Die «Emire» trichtern ihren unter starkem physischem und psychischem Druck stehenden Rekruten ein, dass die Armee sie bei einer Übergabe sofort erschiessen würde.

Behinderung der Wafa

Die Sicherheit im Land hat sich dennoch spürbar verbessert. In Algier und anderen grossen Städten herrscht seit langem wieder ein normales Leben, und es ist keinerlei Ängstlichkeit zu spüren. Auch einige Ausländer spazieren wieder herum, wenn auch weiterhin «beschützt» von Sicherheitsagenten. Mit der Einladung an vier Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, im Mai und Juni Algerien zu besuchen, wollte Bouteflika mit Blick auf die Uno- Menschenrechtskommission zeigen, dass die Menschenrechte in Algerien von der Armee und der Regierung wieder respektiert werden. Die Familien der «Verschwundenen» konnten bei Komitees vorsprechen, und es wurden Dossiers angelegt. Es gibt 4000 namentlich bekannte Verschwundene, die in grosser Mehrzahl von den Sicherheitskräften im Rahmen des offiziellen Gegenterrors verhaftet, gefoltert und zum Teil auch getötet wurden. Noch ist nichts geregelt oder zugegeben worden.

Der Terror und die eigenen Verfehlungen verhindern einen normalen Umgang der algerischen Machthaber sowohl mit islamistischen Parteien, die nicht als sogenannt «gemässigte» in der Regierung mitmachen, als auch mit anderen Oppositionskräften, die sich nicht einbinden lassen wollen. Die Ächtung des politisch und ideologisch motivierten Islams wird von den Nationalisten, den Erben der Einheitspartei FLN, und von einem Teil der frankophonen, «modernen» Demokraten gleichermassen geteilt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Eine von Bouteflika früher angedeutete Rehabilitierung des 1992 verbotenen Front islamique du salut (FIS) erfolgte nicht. Die SM will die islamistischen Parteien auseinander dividieren und kontrollieren. Deshalb musste Innenminister Zerhouni vor einigen Tagen erklären, er werde nicht erlauben, dass Ahmed Taleb Ibrahimis Partei Wafa («Fidélité et justice») zu einem neuen FIS werde. Der 72-jährige Taleb Ibrahimi war zusammen mit Aďt Ahmed vom Front des forces socialistes (FFS) der wichtigste der sechs Gegenkandidaten Bouteflikas gewesen, die sich am Wahlvorabend wegen des sich abzeichnenden Betrugs zurückzogen. Taleb Ibrahimi ist ein Mann des Systems. Er war während fast 25 Jahren Minister und hatte seinerzeit die Arabisierung des Unterrichts gefördert. Er stammt aus dem muslimischen Bildungsbürgertum, spricht ausgezeichnet Französisch und kann auch populistische Saiten aufziehen. Sein Vater war der höchste Würdenträger der Ulema, der muslimischen Gelehrten. Taleb Ibrahimi will mit seiner Wafa «nationale und spirituelle Werte» verteidigen. Er sieht keinen Widerspruch zwischen Islam, Reformen, Modernität, Menschenrechten und Demokratie. So wie es in Europa christlichdemokratische Parteien gebe, meint er, könne und müsse es in Algerien eine islamisch- demokratische Partei geben. Er setzt sich für mehr Rechte der Frauen in Algerien ein, was umgekehrt die in der Regierung vertretene Hamas verhindern will.

Nicht alle nehmen das Credo von Taleb Ibrahimi zum Nennwert. Man hat ihm vorgeworfen, FIS-Anhänger in der Direktion seiner Partei akzeptiert zu haben, was er energisch bestreitet. Da der Innenminister sechs Monate nach dem Gesuch der Wafa keine schriftliche Begründung seiner Ablehnung geliefert hat, gilt die Partei jetzt als zugelassen. Hingegen haben «Agenten» nachts von mehreren Wafa-Büros die Tafeln mit Parteinamen und -insignien entfernt. Für Taleb Ibrahimi kommt das inoffizielle Verbot direkt von der SM, weil eine geheime Umfrage der Gendarmerie einen starken Zulauf zur Wafa bei den nächsten Wahlen ergeben habe. Ein pensionierter hoher Offizier hält diese These für wahrscheinlich, nicht weil die Wafa populär sei, sondern weil sie viele - für das islamisch-populistische Postulat der «sozialen Gerechtigkeit» anfällige - Protestwähler anziehen könnte, wie dies 1991 im Fall des FIS geschehen sei.

Nicht akzeptierter Pluralismus

Alles dreht sich in Algerien immer noch um die Frage, wer wem nach der Unabhängigkeit die Macht weggenommen oder vorenthalten habe. Der zur Sozialistischen Internationalen gehörende Front des forces socialistes, die älteste Oppositionspartei, setzt sich vor allem deshalb für die Wafa ein, weil er vor allem eine Minorität, die Berber der Kabylei, vertritt und Unterstützung gegen eine undemokratische und korrupte Militärhegemonie sucht. Der dritte Kongress, der Ende Mai in Tipasa in einer Turnhalle abgehalten werden musste, weil die Regierung in Algier keinen Saal zur Verfügung gestellt hatte, drehte sich unausgesprochen bereits um die Nachfolge des 73-jährigen, in der Schweiz residierenden Aďt Ahmed, der als letzte grosse Figur des Unabhängigkeitskampfes zwar ein hohes Ansehen geniesst, dieses aber nicht auf seine Nachfolger übertragen kann. Die hauptstädtischen Intellektuellen mit ihrer «frénésie démocratique» schätzen dagegen insgeheim den Schutz der SM vor den unheimlichen Islamisten. Algerien kommt wegen solcher Kollusionen mit dem eigenen arabisch-französisch-berberischen Pluralismus nicht zurecht.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 10. Juni 2000

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