Algeriens Kabylei ist im Aufruhr
"Die brutalste Militärdiktatur westlich von Kabul wankt"
algeria-watch übermittelte uns am 13. Mai einen interessanten Artikel aus der "Weltwoche", in dem über Hintergründe der schweren Auseinandersetzungen in der algerischen Region Kabylei berichtet wird. Wir dokumentieren den Artikel - er erschien schon am 3. Mai 2001 - gekürzt.
Ein Massaker für den nächsten Putsch
Von Oliver Fahrni
... Algeriens Generäle lassen gerade wieder massakrieren.
Diesmal in der Kabylei, der Region im Osten der Hauptstadt Algier. Zwölf
Tage lang demonstrierten junge Kabylen gegen unerträgliche
Lebensbedingungen, gegen Willkür der Staatsgewalt, für Arbeit, Chancen und
Brot. "Ihr könnt uns nicht töten - wir sind längst tot", schrien sie den
Soldaten entgegen. Sie griffen Gendarmerien in El-Kseur, Beni Douala und
Amizour mit Steinen an, bauten in Tizi Ouzou Barrikaden. Eine algerische
Intifada. Die Junta liess sie von der Strasse schiessen.
Am Dienstag trug die Liste der Toten und Verletzten 360 Namen. Die
sozialdemokratische FFS des Kabylen Hocine Ait-Ahmed, stärkste
Oppositionspartei Algeriens, setzte ein "SOS-Genozid" an "die
Weltöffentlichkeit" ab. Im Spital von Tizi Ouzou holen die Ärzte derweil
Explosivgeschosse aus zerfetzten Körpern. Richten, mit unzureichenden
Mitteln, eingeschlagene Köpfe. "Kriminelle Schlachterei", sagt ein Chirurg.
Sonntagnacht, um halb zwölf, so erzählen die Ärzte, brach Innenminister
Nourredine Zehrouni mit seiner Garde und Kamerateams in der Intensivstation
ein. Er wollte Teilnahme mimen, fürs Fernsehpublikum. Die Mediziner
vertrieben ihn mit "Mörder, Mörder"-Rufen. ...
Den Aufruhr in der Kabylei haben die Generäle sorgsam inszeniert. Schon im
März wurden Einheiten nach Tizi verlegt. Gendarmen misshandelten Jugendliche
in Bejaia, erpressten Bauern in Boudjima, belästigten Ladenbesitzer in Tizi.
Die Stimmung kochte hoch. Am 18. April wurde Mohamed Guermah von der Strasse
weg verhaftet. Auf dem Posten richtete ihn ein Gendarm mit einer Salve aus
der Maschinenpistole hin. Ausgerechnet in Beni Douala, dem Geburtsort des
ermordeten Sängers Matoub Lounes, eines radikalen Regionalisten.
Ausgerechnet im April, am Vorabend des Gedenktages für die Niederschlagung
des "Berberfrühlings" 1980. Damals hatten sich die Kabylen für ihre
kulturellen Rechte erhoben.
... Die Generäle des reichen, geplünderten Erdöllandes verfahren regelmässig so: Wackelt ihre
Herrschaft, brauchen sie frischen Kredit aus Europa, oder erschüttern
Machtkämpfe die Junta - immer spielen sie mit der Spannung.
1991 zettelten sie einen Bürgerkrieg an, als sich die Islamisten
anschickten, die Wahlen zu gewinnen. Die Islamisten wurden in den Untergrund
getrieben. Die Geheimdienste mischten in den Guerillagruppen mit, gründeten
getarnte Schlächtertrupps. Militärs foltern, entführen, massakrieren. Sie
treiben es wie die brutalsten islamistischen Emire. Bilanz: 150.000 Tote.
Das verfing: Der Westen hilft der Junta. Die EU hält sie mit Geld über
Wasser. Offiziere schmuggelten jetzt ein brisantes Dokument auf offizielle
algerische Internet-Seiten. Es enthält Namen, Dienstgrad, Auftrag und
Tarnung von elf westlichen Militärexperten, die den Generälen zudienen.
In der Kabylei zündelt die Junta mit dem liebsten Instrument aller
Gewaltherrscher: mit ethnischen Spannungen. Die Kabylen, Berber wie die
Chaouis im Aurčs-Gebirge, die Tuareg im Sahel oder die Chleuhs in Marokko,
verstehen sich als unterdrückte Minderheit mit eigener Kultur. Das ist kaum
zu belegen. Sie können zwar auf einen eigenen Sprachstamm verweisen, das
Tamazight. Aber die kulturellen Unterschiede zwischen den
Berberbevölkerungen sind grösser als etwa zwischen Kabylen und "arabischen"
Algeriern. Sogar die meisten Volkssagen der Kabylen haben arabische Quellen,
dieses oder jenes Kriegerepos ausgenommen.
Tatsächlich kamen kaum mehr als ein paar tausend arabische Reiter in den
Maghreb. Die Berber sind jener Teil der Bevölkerung, der sich vor den
Arabern, den Osmanen und den Franzosen in abgelegene Gebiete wie die Kabylei
zurückgezogen hat. Dass sich daraus eine Identität konstruieren liess,
verdanken die Kabylen 130 Jahren französischer Kolonialherrschaft und dem
arabischen Nationalismus.
Vorab die Franzosen trieben die ethnische Teilung voran. Sie förderten mit
eigens dafür bestimmten Büros die kulturelle Differenz. Algeriens
Unabhängigkeitskämpfer verstärkten den Trend, indem sie regionale
Eigenheiten ignorierten. "Algerien ist unsere Heimat, Arabisch unsere
Sprache, der Islam unsere Religion", dekretierte, 1930, Scheich Ben Badis.
Die Kabylen ziehen daraus das Gefühl, unterdrückt zu sein. Eine Fiktion.
Algier ist die eigentliche Hauptstadt der Kabylei. In den Salons der Junta
wird oft Tamazight gesprochen. Boumedienne war Berber, der heimliche
Juntachef Khaled Nezzar ist, wie viele Generäle, Berber.
Auf den Barrikaden von Tizi Ouzou zerbrach die Fiktion. Berbertum war kaum
ein Thema. Umso mehr die katastrophale soziale Situation. "Gebt uns eine
Zukunft, und wir schweigen", skandierten die Demonstranten. Und: "Hattab,
wir sind mit dir!" Hattab ist der Emir der lokalen islamistischen Guerilla.
Angesichts der Gefahr, der Aufruhr könnte auf Algier übergreifen, beruhigen
die Generäle nun die Lage.
Wer und warum sie zündelten, ist seither das Streitthema in Algier und
Paris. Hardliner der Junta wollten sich des Präsidenten, Abdelaziz
Bouteflika, entledigen, meinen die einen. Wahrscheinlicher sei, halten
andere dagegen, dass in der Junta ein Machtkampf um die Pfründen der
Privatisierung tobe. Plausibel auch die These: Die Generäle suchten neue
Unterstützung in Europa, inszenierten also erneut die Gefahr politischer
Wirren.
Mag sein. Das brutalste Regime westlich von Kabul ist stark unter Druck von
Menschenrechtlern. Als General Nezzar dieser Tage in Paris ein Buch
präsentieren wollte, legten Algerier bei einem französischen Gericht Klage
wegen Folter, Entführung und anderer Verbrechen ein. Nezzar musste nächtens
aus dem Land geschleust werden. Ihm bleiben künftig weite Teile der Welt
verschlossen.
Wir explosiv die Lage ist, verrät ein anderes Dokument. In einem Manifest an
"das algerische Volk, an Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten" rief eine
Bewegung freier Offiziere (Maol) am Montag zum Putsch auf. Der Geheimdienst,
der unlängst 48 Offiziere erschoss, wird zum Stillhalten aufgefordert.
"Weitere Instruktionen folgen."
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