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"Die Jugend will ein besseres Leben"

Revolten in Maghreb-Staaten resultieren aus Wirtschaftskrise und fehlender politischer Perspektive. Gespräch mit Benjamin Stora *


Benjamin Stora (60) wurde in Algerien geboren. Er ist Professor für französische Kolonialgeschichte und Geschichte des Maghreb an den Universitäten Paris VIII und XIII.

Nordafrika wird seit mehreren Wochen von heftigen Unruhen erschüttert. Was ist der Grund?

Die Revolten, die wir derzeit erleben, sind das Ergebnis der Wirtschaftskrise, die den Maghreb genauso getroffen hat, wie den Rest der Welt und die Länder des Mittelmeerraumes in besonderer Weise. Nur, daß sich diese Krise in Gesellschaften wie Algerien, Tunesien und Marokko innerhalb eines echten Demokratiedefizits entwickelte – im Schatten von Regimen. Deshalb könnte man sagen, daß sich die Menschen angesichts der ökonomischen Krise ohnmächtig und isoliert fühlen, weil die Institutionen ihrer Länder nur an den Machterhalt zu denken scheinen und das häufig schon seit langer Zeit.

Wer sind die Protagonisten der Revolten?

Insbesondere Algerien ist immer mehr eine urbane Gesellschaft. Der Prozeß der Verstädterung läßt allerdings die Ränder der wichtigsten Zentren anschwellen und hat auf der sozialen Ebene diverse Konsequenzen: eine größere Nachfrage nach Arbeit, Unterkünften und »Zerstreuung«. Mit Ausnahme der Hauptstadt kann man aber in einem Gutteil des Landes nach acht Uhr abends nichts mehr unternehmen. In einem solchen Kontext 20 Jahre alt zu sein, ist mit Sicherheit nicht einfach. Man darf nicht glauben, daß die einzigen Dinge, die die Gesellschaften des Maghreb prägen, auf die islamische Religion zurückzuführen sind. Die Modernität hat sich unter den Algeriern breitgemacht und stellt sie vor immer neue Probleme. Noch Ende der 70er Jahre lag die Geburtenrate in dem Land bei sechs bis sieben Kindern je Frau. Heute sind wir bei zwei angekommen. Das bedeutet, daß die Menschen anfangen, an etwas anderes zu denken: Der Wunsch, ein Haus zu besitzen und einer anständigen Arbeit nachzugehen, wird vorrangig.

In Algerien hat das Regime Abdelaziz Bouteflikas nicht zum ersten Mal mit Unruhen und Aufständen zu tun. In welchem Verhältnis stehen die heutigen Ereignisse zu dem, was in den 80er und 90er Jahren geschah?

Gemeinsam ist diesen Revolten das Gefühl, das ihre Protagonisten bewegt: nämlich, daß das politische System praktisch seit jeher blockiert ist. Die neue Generation sieht sich von jedem Zugang zur Macht oder auch schlicht von der Mitsprache bei den Entscheidungen ausgeschlossen, die sie betreffen. Und nicht nur das. Die Malaise ist auch sozialer Art. In Algerien, genau wie in Marokko und Tunesien, können sich diejenigen, die ein Diplom in der Tasche haben, fast sicher sein, als Arbeitslose zu enden. Die 20- bis 30jährigen haben oftmals große Opfer gebracht, um einen höheren Bildungsabschluß zu erreichen, und stehen dann ohne eine konkrete Perspektive da. Gleichzeitig stellen sie fest, daß andere arabische Länder, wie die Golfstaaten, prosperieren und ihrem Nachwuchs viele Chancen bieten, beziehungsweise, daß andere »aufstrebende« Länder, wie China und Brasilien, boomen.

Moderne Kommunikationsmittel wie Handys und Internet spielen bei Mobilisierung, Information und Koordination der Proteste offenbar eine wichtige Rolle. Ist das in Staaten, wo eine derart starke soziale Kontrolle herrscht, ein neues Moment?

Absolut. Man muß die Tatsache berücksichtigen, daß die wirtschaftliche Globalisierung auch kulturelle und soziale Kehrseiten hat. Die Jugend des Maghreb will an der Welt teilhaben, zu der sie via Internet oder über die Verbindungen und den Austausch mit in Europa lebenden Verwandten Zugang hat. Was den kulturellen Konsum, Musik oder die »Stile« anbelangt, ist der Mittelmeerraum in den vergangenen Jahren immer kleiner geworden. Je mehr die Jugendlichen in dieser globalisierten Welt aufgewachsen sind, umso mehr wünschen sie sich ein besseres Leben sowohl auf der materiellen Ebene wie auch den Zugang zu anderen Dingen. Dabei prallen sie auf eine blockierte politische Realität mit Massenarbeitslosigkeit und einem vom Autoritarismus beherrschten kulturellen Klima.

Manche Beobachter sprechen angesichts dieser zeitgleichen Revolten, deren Wirkung bis nach Jordanien und in den Libanon reicht, schon von einer arabischen »68er-Bewegung«. Ist das zu hoch gegriffen?

Sagen wir, daß die Politiker und Parteien, die heute die Szene beherrschen, in den Gesellschaften dieser Länder immer mehr als Fessel empfunden werden. Es gibt Generationen und Bedürfnisse, die im öffentlichen Raum keine Vertretung finden und die deshalb versuchen, sie sich um jeden Preis zu erkämpfen.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 18. Januar 2011


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