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Verhüllt in der Öffentlichkeit

48 Jahre Unabhängigkeit haben algerischen Frauen kaum Freiheiten gebracht

Von Abida Semouri, Algier *

Algeriens Frauen kämpfen mit dem Druck einer patriarchalen Gesellschaft, die sie gerne zum Tragen eines Schleiers verpflichten und aus der Öffentlichkeit verbannen würde.

Algerien galt nach der Unabhängigkeit vor 48 Jahren als eines der modernsten Länder der arabischen Welt. Die Befreiung vom französischen Kolonialismus war auch den Frauen zu verdanken, die an der Seite der Männer mit der Waffe in der Hand gekämpft hatten. Das räumte ihnen eine geachtete Stellung in der Gesellschaft ein. Bis in die 80er Jahre verhüllten sich nur wenige Algerierinnen. Seit dem Erstarken des Islamismus jedoch hat sich das Straßenbild verändert.

In einer Damenboutique in der Algierer Geschäftsstraße Didouche Mourad verkauft Aida elegante Mode vom letzten Schrei. Sie selbst ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. »Ich trage den Hidschab seit sechs Jahren natürlich aus religiösen Gründen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass ich ihn tragen muss.« Ihre Freundin Kahina sitzt in Top und Jeans neben der Kasse. Die Medizinstudentin respektiert die Wahl ihrer Freundin, sieht die Dinge aber anders. »Ich finde, dass ich im Moment noch nicht richtig bereit bin, den Schleier zu tragen. Ich bin hübsch und kokett und zieh mich gerne schick an. Ich sehe nicht ein, warum ich die Freuden, die mir das Leben täglich bereithält, dem Kopftuch opfern sollte.«

Aber diese Wahl haben die meisten nicht. Sie werden von Vater, Bruder oder Ehemann vor eine andere gestellt, entweder verschleiert oder aber gar nicht aus dem Haus zu gehen. Mittlerweile verhüllen sich 90 Prozent der erwachsenen Algerierinnen in der Öffentlichkeit. In der Frage, ob sich die Gesellschaft gen Moderne oder Gottesstaat entwickelt, gewinnen die Islamisten immer mehr an Terrain. Dalila kommt täglich in die Moschee der Universität Algier. Die 33-jährige Arabischstudentin sitzt auf dem Boden. Der voluminöse Hidschab lässt nur ihr freundliches Gesicht und die Hände frei. Sie gibt sich überzeugt, als sie die Gründe für dieses Outfit erläutert. »Ich trage den Hidschab auf Geheiß meines großen Bruders. Er hat damals gesagt, dass es so einfacher für mich sei, zu studieren und arbeiten zu gehen. Alle Frauen in meiner Familie verhüllen sich. Der Islam räumt der verschleierten Frau einen höheren Stellenwert ein. Und die Leute draußen – vor allem fremde Männer – respektieren mich viel mehr, auf der Straße, in der Moschee, egal wo ich bin.«

Zwei Drittel der algerischen Männer wollen den Schleier für alle zur Pflicht machen, nur fünf Prozent dagegen, dass er aus dem Straßenbild verschwindet. Das ergab eine Studie des Algierer Frauenzentrums CIDDEF. Dessen Chefin Nadia Ait Zai kämpft seit Jahrzehnten für die individuellen Freiheiten der Frauen. »Wenn sie den Schleier tragen, weil man sie dazu zwingt, dann heißt das, sie unterwerfen sich dem Willen eines Mannes oder den Vorschriften eines sozialen Umfeldes, ihrer Nachbarschaft. Hier müsste der Staat eingreifen und Regeln für das Zusammenleben aufstellen.«

Das Reden der Leute und der Druck in der eigenen Familie sind die wirklichen Gründe, sich zu verhüllen, so die CIDDEF-Studie. Ganz oben steht das Argument: Ich kann mich nur so frei und unbelästigt bewegen. Genau das will die Algerierin von heute. Kein Beruf, in dem man sie nicht findet, von der Putzfrau bis zur Bombenentschärferin. Immer mehr Frauen versuchen allen Widerständen zum Trotz, ihr Leben in die Hand zu nehmen, mit oder ohne Schleier. Für Ait Zai ist das der einzige Weg, um die Dinge zu ändern: »Wenn sie den Schleier benutzt, um frei zu sein, dann hat sie unsere volle Unterstützung. Wenn sie sich so ihren Platz zurückerobert und dann den Mut findet, ihn abzulegen. Nur so kann sie sich ihren Stellenwert in der Gesellschaft zurückholen, denn die Politik hat versagt.«

Diese Ansicht teilt auch Dalila Djerbal vom Frauennetzwerk »Ouassila«. Der Verein kümmert sich seit Jahren um Opfer häuslicher Gewalt. »Der Terrorismus in den 90er Jahren hat die Gesellschaft völlig verändert. Es gibt heute ein vorher nie gekanntes Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Kinder«, beklagt die Soziologin. »Was uns schockiert, ist die steigende Zahl der Frauen, die auf der Straße landen, teils weil sie von der Familie verstoßen wurden, teils weil sie selbst vor den Zuständen geflohen sind.« Die meisten suchten eine Bleibe, aber es gebe nur sehr wenig Frauenzentren in Algier. Die Betroffenen suchten einen Ausweg, eine Arbeit, eine Wohnung. Dies aber sei extrem schwer, da die meisten von ihnen keine Berufsausbildung hätten. »Der Frau wird in dieser patriarchalischen Gesellschaft deutlich zu verstehen gegeben, dass ihr Platz nicht im öffentlichen Raum ist, sondern dass sie zur Reproduktion da ist«, stellt die Frauenrechtlerin nüchtern fest. Nach ihrer Meinung wird der Staat seiner Rolle als Garant für die Rechte und Freiheiten der Bürger nicht gerecht. »Was nützen die besten Gesetze, wenn sie nicht einmal von den staatlichen Institutionen, wie Polizei und Justiz eingehalten werden. Viele Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, gehen nicht vor Gericht, weil sie befürchten müssen, dass der Richter letztendlich doch auf Seiten des Täters steht. Die Repressionen, denen diese Frauen danach ausgesetzt sind, sind dann noch schlimmer.«

* Aus: Neues Deutschland, 8. März 2011


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