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"Die Stimmen im Frauenbad"

Die algerische Schriftstellerin Assia Djebar erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2000 - Ein Porträt der Preisträgerin

Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wird seit 1950 alljährlich am Sonntag während der Frankfurter Buchmesse überreicht. Ausgezeichnet wird laut Statut eine Persönlichkeit, «die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat». Der Preis ist mit 25.000 Mark dotiert und wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels gestiftet. Erster Friedenspreisträger war 1950 Max Tau. Es folgten unter anderen Albert Schweitzer, Theodor Heuss, Ernst Bloch, Max Frisch, Astrid Lindgren, Yehudi Menuhin, Vaclav Havel, Mario Vargas Llosa und im vergangenen Jahr der amerikanische Historiker Fritz Stern. Nicht immer hatte der Börsenverein des deutschen Buchhandels eine glückliche Hand bei der Preisverleihung. In schlechter Erinnerung ist z.B. noch die Verleihung vor zwei Jahren an Martin Walser, dessen Dankesrede zu einem missglückten Versuch geriet, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen. In diesem Jahr wurde die algerische Autorin Assia Djebar zur Friedenspreisträgerin gewählt.
In der Begründung des Stiftungsrats heißt es:
»Der Buchhandel ehrt die algerische Schriftstellerin Assia Djebar, die dem Maghreb in der zeitgenössischen europäischen Literatur eine eindringliche Stimme gegeben hat. Sie hat mit ihrem Werk ein Zeichen der Hoffnung gesetzt für die demokratische Erneuerung Algeriens, für den inneren Frieden in ihrer Heimat und für die Verständigung zwischen den Kulturen. Den vielfältigen Wurzeln ihrer Kultur verpflichtet, hat Assia Djebar einen wichtigen Beitrag zu einem neuen Selbstbewusstsein der Frauen in der arabischen Welt geleistet.«

Lieferbare Titel in Auswahl
  • »Fantasia«. Aus d. Franz. von Inge Artl. 1990, 336 Seiten, 34 Mark; UT 31, 18,80 Mark
  • »Fern von Medina«. Aus d. Franz. von Hans Thill. 1994, 400 Seiten, 39 Mark; UT 88, 19,80 Mark
  • »Die Frauen von Algier«. Aus d. Franz. von Alexandra von Reinhardt. 1999, UT 147, 192 Seiten, 16,90 Mark
  • »Nächte in Strassburg«. Aus d. Franz. von Beate Thill. 1999, 290 Seiten, 38 Mark
  • »Die Schattenkönigin«. Aus d. Franz. von Inge Artl. 1991, UT 11, 224 Seiten, 14,80 Mark
  • »Weisses Algerien«. Aus d. Franz. von Hans Thill. 1996, 280 Seiten, 36 Mark
  • »Weit ist mein Gefängnis«. Aus d. Franz. von Hans Thill. 1997, 384 Seiten, 34 Mark
(Alle Titel sind im Unionsverlag, Zürich, erschienen)

Die Preisverleihung fand am Sonntag, den 22. Oktober 2000 in der Paulskirche Frankfurt statt.

Im Folgenden informieren wir über die Preisträgerin 2000. Den Artikel, den wir leicht gekürzt dokumentieren, haben wir der Frankfurter Rundschau entnommen.


Die Stimmen im Frauenbad

Von Judith von Sternburg

"Sie verschleiert sich also noch nicht, deine Tochter?" fragt die eine oder andere Matrone (. . .) "Sie liest!" antwortet meine Mutter schroff. (Assia Djebar, Fantasia)

Die dazwischen hängen, sind seit jeher besonders produktiv gewesen. Sie haben den schärferen Blick auf die Dinge und gelegentlich auch schlankweg mehr zu erzählen. Diesmal: eine Moslemin, die sich Freiheiten nimmt, eine Algerierin, die französisch schreibt, eine Pariserin, die zur französischen Gesellschaft auf Distanz hält. Obwohl Algerien der Dreh- und Angelpunkt von Assia Djebars Werk ist, lebt sie seit Ende der siebziger Jahre in Paris, hat sie das Land seit 1992 nicht mehr besucht. Obwohl sie heute "ohne Komplexe" französisch schreibt, die "stiefmütterliche" Sprache, erklärt sie, sie würde nicht in einer französischen Einrichtung arbeiten wollen. Einen Lehrstuhl hat sie an der Louisiana State University.

Assia Djebar hängt auch deshalb dazwischen, weil sie als Mädchen aus dem algerischen Bürgertum denkbar schlechte Voraussetzungen für ihren späteren Lebensweg hatte. Djebar, die über Verliererinnen schreibt, ist selbst eine Gewinnerin. Das Schicksal der "eingesperrten Frauen", das sie in ihren Romanen schildert - und "eingesperrt" ist keineswegs metaphorisch zu verstehen -, hat sie, 1936 geboren, nur am Rande erlebt. Bis sie zehn Jahre alt ist, lebt sie unter Frauen im Haus. Dann bringt ihr Vater, Lehrer in der algerischen Kleinstadt Cherchell, sie in einer französischen Schule unter. So beginnt der Roman Fantasia (1985), und die Leserin begreift da noch gar nicht, was und vor allem wieviel das bedeutet. "Ein kleines arabisches Mädchen geht zum ersten Mal zur Schule, an einem Herbstmorgen, an der Hand ihres Vaters. Er, den Fez auf dem Kopf, eine große, aufrechte Gestalt in einem Anzug nach europäischem Schnitt, trägt eine Schulmappe. (. . .) Vom ersten Tag an, an dem ein kleines Mädchen ,hinausgeht', um das Alphabet zu lernen, nehmen die Nachbarn einen vielsagenden Blick an und bemitleiden zehn oder fünfzehn Jahre im voraus den verwegenen Vater, den nachsichtigen Bruder."

Immer die erste

Wer schreibt, so Djebar, schreibt irgendwann den ersten Liebesbrief. Wer schreibt, wird frei, ein Stückchen. "Als junges Mädchen sagte ich mir immer wieder, dass mein Vater mich aus dem Harem befreit hatte. Später bin ich so oft wie nur möglich im Freien herumvagabundiert, jeden Tag, in jeder Stadt, in der ich mich gerade befand." (Die Schattenkönigin, 1987). Sie ist die erste Moslemin an der Schule, ein Zustand, an den sich Assia Djebar, die damals noch Fatima-Zohra Imalayčne heißt, gewöhnen wird. Elf Jahre später ist sie die erste Algerierin, die auf die École Normale Supérieure in Paris aufgenommen wird. Sieben Jahre später ist sie eine der ersten algerischen Lehrenden an der Universität von Algier.

Als Geschichtsstudentin in Paris schließt sich Djebar dem Widerstand an. 1957 erscheint ihr erster Roman - aus Sorge über das Urteil des Vaters legt sie sich ein Pseudonym zu -, dem ein dutzend weitere Bücher folgen (acht sind im Unionsverlag zu haben). Nach der Unabhängigkeit zieht sie nach Algier, angefeindet nun, weil sie nicht arabisch schreibt (schreiben kann). In den Siebzigern schweigt sie als Autorin. Ihr Film Das Fest der Frauen vom Berg Chenoua bekommt 1979 den Preis der Internationalen Kritik auf der Biennale in Venedig (Filme dreht auch die Heldin in ihrem Buch Weit ist mein Gefängnis, 1995).

...

Die Algerierinnen müssen nach 1962 feststellen, dass die neue Freiheit vom Kolonialherrscher nur den Männern gehört. In den Frauen von Algier (1980) geht ein junges Mädchen ins Frauenbad. Da hört sie, wie vom "Feind" gesprochen wird, und lernt, dass die Frauen ihre Ehemänner so nennen, unter sich. Dem Wüten der Kolonialherren folgen zudem die Morde in den eigenen Reihen. "Häufig habe ich mich gefragt, wie diese Übergabe vonstatten ging in dieser sonnigen Hauptstadt, die Übergabe von einem Folterknecht zum anderen." Zur strengen Mahnerin an ermordeten Kollegen wird Djebar in Weißes Algerien (1996): "Man nimmt den ins Fadenkreuz, der spricht, der ,ich' sagt, der seine Meinung sagt, der die Demokratie verteidigen möchte. Man schlägt den tot, der sich an der Grenze ansiedelt: der Sprachen, der Geschlechter, der Lebensformen; den, der sich am Rand aufhält (. . .)."

Die Täter gut rasiert

Djebars Bücher sind sorgsam zusammengesteckte Stimmen-Mosaike. Immer aber sind es die Stimmen von Frauen, der frühen Mosleminnen um den Propheten Mohammed (in Fern von Medina, 1991), der Widerstandskämpferinnen des Algerienkrieges (Fantasia), der Intellektuellen und der Stummen (Die Schattenkönigin), der jungen Träumerin (Die Ungeduldigen, 1958). Und immer steht am Ende die Gewalt von Menschen gegen Menschen im Mittelpunkt. Allerdings sind es nicht die Täter, die Djebar interessieren - "Sie haben sich heute morgen rasiert. Sie werden sich bürgerlich kleiden, wie Bürgersöhnchen. Sie sind jung; sie finden sich schön" -, sondern alleine die Opfer.

Ganze Prozessionen von Toten ziehen durch ihre Bücher. Unter vielen die beiden ersten Guillotinierten im berüchtigten Gefängnis von Algier, Barberousse. Zabana ist tapfer und Patriot bis zuletzt. Ferradj schreit und will nicht sterben. Wer an Zabana denkt, muss an Ferradj denken, sagt Assia Djebar, an den, der an die Unerträglichkeit des Todes erinnert und sich dagegen wehrt. Ohne Stimme geht das nicht, geht nichts. In Fantasia wird die "Unanständigkeit" von Frauen geschildert, die "sich weigern ihre Stimme zu verschleiern, und ,zu schreien anfangen'. Denn dadurch verlor das Schweigen der anderen plötzlich seinen Zauber und zeigte, was es wirklich war: ein nicht wiedergutzumachendes Gefängnis." Aus: Frankfurter Rundschau, 21. Oktober 2000

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