"Cohabitation" - Keine Beruhigung in der Kabylei
Algerien vor einer neuen Zerreißprobe. Von Sabine Kebir
Im Folgenden dokumentieren wir einen Hintergrundbericht über die jüngste Entwicklung in Algerien von Sabine Kebir, den wir der Wochenzeitung "Freitag" entnommen haben. Er erschien dort unter der Überschrift: Menetekel 'Cohabitation'".
Eine erneute Periode von Unsicherheit,
wenn nicht Chaos, stehe Algerien
bevor, heißt es überall in der Hauptstadt.
Eine überaus gnädige
Prophezeiung, denn tatsächlich hat diese
Periode längst begonnen. Vor
den Parlamentswahlen am 30. Mai kann
inzwischen Wahlkampf fast nur
noch im Fernsehen stattfinden, da
Kandidaten bei dem Versuch, Meetings
abzuhalten, ausgepfiffen, ausgeschrieen
und in einigen Fällen fast gelyncht
wurden. Es gibt daher viele Stimmen, die
fordern, das Votum um sechs
Monate zu verschieben. Ob bis dahin
allerdings die Gründe, die zu dieser
aggressiv getönten Stimmung geführt haben,
beseitigt sein werden, ist
zweifelhaft. Ein Teil der Haushalte (auch
in Algier) musste schon vor
Beginn der Hitzeperiode nicht nur
mehrtägige, sondern mehrwöchige
Wasserabsperrungen hinnehmen. Über 50
Prozent des Trinkwassers
gehen durch Abflüsse aus einem maroden
Leitungssystem verloren. Wie
schlimm die Lage ist, sieht man daran,
dass sich die Regierung zu einer
demütigenden Lösung entschlossen hat:
täglich holt ein Schiff 80.000
Kubikmeter Trinkwasser bei der ehemaligen
Kolonialmacht ab, aus
Marseille. Zugleich wurde nahe Algier eine
Meerwasserentsalzungsanlage
in Betrieb genommen.
Trotzdem dürfte ab Juni Trinkwasser
vorzugsweise von Wasserwagen
verkauft werden. Wie sich alte Leute, die
keine Kinder zum Schleppen
haben, versorgen sollen, steht in den
Sternen. Nicht nur das Wasser sorgt
für Panik. Oft teilen die Zeitungen wieder
mit, dass die Ordnungskräfte
Terroristen gefangen genommen oder getötet
hätten. Le Maghreb meldet
ein neues Guerilla-Netz der Emire bei
Tiaret, zweifellos nicht das einzige.
In einzelnen Regionen, darunter in Algier,
häufen sich Morde an Polizisten.
Auch in der Kabylei, wo nicht nur ein
Aufschub, sondern ein Boykott der
Wahlen gefordert wird, starben gleich fünf
Beamte bei Attentaten, obwohl
der Staat dem Begehren der sich Arusch
nennenden Volkskomitees
nachgekommen war und aus 18 Orten die
Gendarmerie abgezogen hatte.
Die Bevölkerung empfand deren Verbleib als
unzumutbar, nachdem vor
einem Jahr ein inhaftierter junger Kabyle
auf einem Kommissariat
erschossen wurde. Bis heute kommt es in
der Region immer wieder zu
Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und
Armeeeinheiten, die dem
Staat erfolglos Autorität verschaffen
wollen. Dass die Kabylei nicht
befriedet werden konnte und nicht nur von
den Arusch, sondern auch den
beiden dort verwurzelten Parteien FFS
(Front des Forces Socialistes) und
RCD (Rassemblement pour la Culture et la
Démocratie/s. Übersicht) zum
Wahlboykott aufgerufen wird, ist um so
gravierender, als das Parlament im
April die Hauptforderung der kabylischen
Volksbewegung nach einer
Promotion des Berberischen zur offiziellen
Landessprache erfüllt hat.
Künftig werden offizielle Dokumente nicht
nur in Arabisch und dem als
Kommunikationssprache unerlässlichen
Französisch abgefasst sein,
sondern auch in Berberisch.
Doch die seit der Unabhängigkeit
überfällige Konzession vermag die
Gemüter nicht zu besänftigen, da die
tieferen Ursachen des Aufbegehrens
sozialer Natur sind. Es ist allerdings
weder RCD, noch FFS, noch den
Arusch gelungen, im Sog des sozialen
Protestes eine politische Bewegung
zu formen, die auch arabophone Gebiete
erfasst. Dort trägt der
Widerstrand nach wie vor eher
islamistische Züge und artikuliert sich nicht
durch Massendemonstrationen, sondern durch
die Guerilla. Damit wächst
die Gefahr eines aufgeheizten
Regionalkonflikts, obgleich eine Autonomie
oder gar Unabhängigkeit der Kabylei aus
ökonomischer Sicht völlig
abwegig ist. Es gibt keine Spur von
Bodenschätzen. Allein schon deshalb
hält sich die Unterstützung, die
Berber-Gruppen traditionell aus Frankreich
erhalten, bislang in wohl durchdachten
Grenzen.
Wie auch immer, durch den offenbar nicht
mehr zu verhindernden
Wahlboykott der Kabylei, der ergänzt wird
durch Wahlmüdigkeit in vielen
arabophonen Gegenden, spricht nun vieles
dafür, dass die legalen
islamistischen Parteien MSP (Mouvement
Social pour la Paix) und Nahda
(Wiedergeburt) sowie ähnliche kleinere
Gruppen als Block die Wahlen
gewinnen. Das Einzige, was RND und FLN,
als säkulare Gralshüter des
Staates unternommen haben, um
Wählerreserven zu aktivieren, war das
Bekenntnis zu einer 40-prozentigen
Frauenquote, die jeweils ab Listenplatz
zwei zur Anwendung gelangt. Aber auch die
Islamisten stehen diesmal mit
qualifizierten Kandidatinnen im Wahlkampf
(schon jetzt ist abzusehen, das
neue Parlament wird zu etwa 30 Prozent aus
Frauen bestehen). Wird also
Präsident Bouteflika möglicherweise eine
Cohabitation eingehen müssen?
Nicht nur hinter den Kulissen ist von der
Notwendigkeit diskreter
Korrekturen des Wahlergebnisses die Rede.
Auf jeden Fall aber wird es
mehr islamistischen Einfluss in der
Nationalversammlung geben als bisher.
Die begonnene Justizreform, vor allem die
ebenfalls anstehende Inventur
des an islamistischer Bigotterie leidenden
Bildungswesens geraten damit
in große Gefahr.
Algeriens Parteien 2002
Rassemblement National Démocratique
(RND)
Die Partei wurde 1997 durch Liamine
Zeroual, den Vorgänger von Präsident
Abdelaziz Bouteflika, gegründet, um
Teile der Administration und Armee zu binden
und wieder eine Regierungspartei zu
haben. Mitglieder: 10.000.
Front de la Libération National (FLN)
Bis zur Verfassungsrevision von 1989
Staats- und Einheitspartei Algeriens. Die FLN
hatte den Unabhängigkeitskrieg gegen
Frankreich bis zur staatlichen
Selbstständigkeit 1962 geführt.
Mitglieder: 50.000.
Mouvement de la Société pour la Paix
(MSP)
Moderate islamistische Partei unter
Madfoudh Nahnah, die sich innerhalb des
Verfassungsrahmens bewegt. Sie kam bei
den vorletzten Präsidentschaftswahlen
1995 auf 25 Prozent. Mitgliederzahl:
42.000.
Nahda (Wiedergeburt)
Islamistische Partei, die in ihrer
Programmatik Gesellschaftsvorstellungen der seit
1992 verbotenen Front Islamique du
Salut (FIS) aufgenommen hat.
Front des Forces Socialistes (FFS)
Nichtislamische sozialdemokratisch
orientierte Partei unter Generalsekretär Hacine Ait
Ahmed, die vor allem in der
Bevölkerungsgruppe der Berber verwurzelt ist.
Rassemblement pour la Culture et la
Démocratie (RCD)
Nichtislamische Partei, die sich für
eine Demokratisierung der algerischen
Gesellschaft einsetzt und auf eine
Anhängerschaft im städtischen
Bildungsbürgertum verweisen kann.
Mitglieder: 7.000.
Aus: Freitag 22, 24. Mai 2002
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