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Algerien: Massaker weiter an der Tagesordnung

Eine deprimierende Zwischenbilanz der Regierungszeit Bouteflikas

"Algerien auf dem Weg zum Frieden?", überschrieben wir den Abschnitt über Algerien im Friedens-Memorandum 2000. Das Fragezeichen war leider nur allzu berechtigt. Die Erwartungen, die viele auf den im April 1999 gewählten Präsidenten Abdelaziz Bouteflika gesetzt hatten, wurden enttäuscht. Die einzigen Erfolge, die er erringen konnte, waren außenpolitischer Natur. So konnte er sowohl die Beziehungen zu Frankreich verbessern (was ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen zu erklären ist, denn Paris kümmert sich traditionell wenig um die Menschenrechtssituation in ihren ehemaligen "Kolonien"), als auch im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea eine konstruktive Rolle als Vermittler spielen. "Wann wird Präsident Bouteflika endlich Algerien einen Staatsbesuch abstatten?" Mit dieser zarten Ironie spielte eine algerische Zeitung auf die häufigen Auslandsreisen des Präsidenten an, der sich ihrer Meinung nach etwas mehr um das eigene Land kümmern sollte.

Und um die Lage im Land steht es nach wie vor schlimm. Die algerische Zeitung "Libération" gibt einen makabren Witz wieder, nach dem der Absturz der französischen "Concorde" 100 Tote gefordert habe, der Absturz der algerischen "Concorde" aber 1.000. Gemeint ist damit die "zivile Eintracht" (französisch: concorde), die Bouteflika durch eine großzügige Teilamnestie und soziale Wiedereingliederung reuiger Terroristen ursprünglich stiften wollte. Arrangiert hatte sich lediglich der bewaffnete Arm der Islamischen Heilsfront, die AIS-Islamische Rettungsarmee, aus deren Reihen der Großteil der insgesamt 5.500 "Reuigen" kommt. Andere bewaffnete Gruppen setzen ihren Kampf mit unverminderter Härte fort und scheinen auch über genügend Nachwuchs zu verfügen. "Islamische" Züge trägt deren "Kampf" keineswegs. Die Überfälle auf die - meist ländliche - Zivilbevölkerung dienen sowohl der unmittelbaren Erbeutung von Rindern und Schafen, als auch der Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung von ihren Grundstücken. Nach einem Bericht des algerischen militärischen Sicherheitsdienstes sind im abgelaufenen Jahr 1.025 "islamistische" Untergrundkämpfer getötet worden. Dem standen 603 getötete Sicherheitskräfte und 117 "Dorfwächter" gegenüber. Eine amtliche Zahl für die ums Leben gekommenen Zivilpersonen befindet sich nicht in dem Bericht. Mitgeteilt wird nur die Zahl von 70 Massakern mit jeweils mehr als acht Opfern. Unabhängige Beobachter sprechen davon, dass die Gewalt gegenüber dem Jahr 1999 wieder zugenommen habe. Täglich soll es zwischen 10 und 20 zivile Opfer gegeben haben. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass ein Großteil der massiven Menschenrechtsverletzungen von den Sicherheitskräften verübt wird.

Die Art der Überfälle und Massaker deutet darauf hin, dass die Täter nicht einmal mehr den Schein aufrechterhalten wollen, hier handle es sich um den Kampf islamischer Fundamentalisten um die Errichtung eines islamisches Gottesstaats. Vielmehr geht es um Raub, um die Aneignung fremden Hab und Guts, um die Erbeutung von Waffen, mit denen der "Kampf" fortgesetzt werden kann usw. Die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung und der wieder demonstrativ zur Schau gestellte Reichtum der Wenigen stellt den Humus dar, auf dem Gewaltstrukturen, mafiose Geschäfte, Bandentätigkeit, Raub und Mord gedeihen. Ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung ist arbeitslos, von der akuten Wohnungsnot - es fehlen mindestens zwei Millionen Wohnungen - sind mehrere Millionen Menschen betroffen. Die Situation für die Kinder und Jugendliche kann trostloser kaum sein. 2,2 Millionen Schüler stammen aus Familien, deren Mitglieder dem Terrorismus zum Opfer gefallen sind, deren Eltern arbeitslos sind oder deren Familieneinkommen weniger als umgerechnet 270 DM beträgt. Zeitungsberichten zufolge ist unter Jugendlichen und bei alten Menschen eine wachsende Zahl an Selbstmorden zu verzeichnen - für eine islamisch geprägte Gesellschaft ist das ein besonders beunruhigendes Symptom für den erreichten Grad der physischen und psychischen Verelendung. Darüber können auch die im Herbst wieder zugelassenen und - zumindest in Algier - massenhaft besuchten und begeistert gefeierten - Rai-Konzerte nicht hinwegtäuschen.

Angesichts der Perspektivlosigkeit der Jugend und des tiefen Misstrauens der Bevölkerung gegenüber dem Staat könnte sich die soziale Situation in Zukunft bis zum Zerreißen anspannen. In Le Monde diplomatique (13.10.2000) wird ein pensionierter Offizier mit den aufschlussreichen Worten zitiert : "Manche reichen Algerier haben keine Skrupel, über Leichen zu gehen und auch noch demonstrativ damit zu protzen. Man soll sich nicht wundern, wenn das Land eines Tages wieder in Flammen aufgeht."

Aus: Friedens-Memorandum 2001, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel 2001, S. 14-15

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