"Es ist ein Propagandatrick der Regierung"
Durch die Aufhebung des Ausnahmezustands in Algerien hat sich die Lage kaum gebessert. Gespräch mit Adlène Meddi *
Adlène Meddi ist Chefredakteur der algerischen Wochenzeitung El Watan Vendredi.
Nach knapp zwei Jahrzehnten wurde vor einer Woche das Ende des Ausnahmezustands in Algerien beschlossen. Ist dies ein erster großer Schritt Richtung Reform?
Symbolisch ja, faktisch nein. Es ist ein Propagandatrick der Regierung, aber für die Menschenrechte kein wirklicher Fortschritt. Denn das Problem ist, daß andere Gesetze nun diesen Ausnahmezustand ersetzen. Gesetze gegen den »Terrorismus«, die noch viel gefährlicher sein können für die Menschenrechte, Demokratie und Freiheit in Algerien, als dieser Ausnahmezustand es war.
Welche Bürgerrechte bleiben trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands eingeschränkt?
Demonstrationen sind explizit noch immer verboten. Trotzdem gehen die Proteste weiter, und die Opposition fordert mehr Demokratie auf der Straße. Dies aber in ständiger Angst, Repressionen der Sicherheitskräfte ausgesetzt zu sein. Und die Polizei in Algerien ist berüchtigt für ihre Brutalität. Daher gibt es auch keine Massendemonstrationen. Überall im Land sind kleine Versammlungen von Arbeitern zu beobachten, 30 bis 40 Mann große Versammlungen, die gerade noch informell durch die Sicherheitskräfte toleriert werden. Auch die Studenten in Algier »dürfen« sich versammeln. Es sind an manchee Tagen bis zu 1500, derzeit blockieren sie das Ministerium für Kultur und Bildung in Algier. Aber, ich wiederhole noch mal deutlich: In Wirklichkeit hat sich durch die Aufhebung des Ausnahmezustands nichts geändert.
Und welche weiteren Protestformen gibt es neben den Versammlungen?
Seit Wochen gibt es Streiks, vor allem von Staatsbediensteten, die mehr Gehalt fordern, aber auch kleine politisch motivierte Streiks. Vor allem junge Algerier versuchten wiederholt, mit Hungerstreiks und sogar Selbstverbrennungen auf ihre Perspektivlosigkeit aufmerksam zu machen. Mitte Februar kam es zu 15 Fällen von Selbstverbrennung. Die Hungerstreiks sind schon alltäglich geworden: Jede Woche erlebt man drei, vier neue Fälle von Hungerstreik, vor allem außerhalb Algiers in den Vororten und kleineren Städten.
Wo sieht man die Hungerstreikenden?
Die gehen einfach auf die Straße, vor ihre Haustür oder vor den Eingang ihrer ehemaligen Arbeitsstelle, sitzen dort mit einem Plakat, auf dem sie mitteilen, daß sie im Hungerstreik sind, um gegen ihre Arbeitslosigkeit und gegen die schlechten wirtschaftlichen Zustände im Land zu protestieren. Meiner Meinung nach ist für diese jungen Menschen der Hungerstreik aus ihrer Sicht die letzte Protestform, um etwas gegen die Lethargie zu tun.
Welche Rolle spielt der demographische Faktor?
In Algerien wächst die Bevölkerung derzeit um den Faktor 3,5. Ein Drittel der Algerier ist arbeitslos, 70 Prozent der Algerier sind unter 30. Die Menschen fühlen sich wie in einem Gefängnis. Daher versuchen sie, trotz Lebensgefahr über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Was ist der Unterschied zwischen den Aufständen heute und den Brotrevolten der 1980er Jahre?
Damals mündeten die Aufstände in die große Revolte von 1988, gegen die die Armee mit massiver Gewalt vorging. Der größte Unterschiede zwischen den soziokulturellen Bewegungen in Algerien und in den anderen arabischen Ländern ist, daß die Algerier traumatisiert sind vom brutalen Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten in den 90er Jahren.
Wie ist die Lage hinsichtlich Meinungsfreiheit und Arbeitsbedingungen von Journalisten?
Unsere Zeitung wurde von dem seit 1999 autoritär regierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika immer wieder mal am Erscheinen gehindert, Mitarbeiter in Gewahrsam genommen. Aber ich will nicht zu viel klagen: Wir können hier insgesamt besser arbeiten als in vielen anderen arabischen Ländern. Wir Algerier haben das Recht auf eine Meinung, und die lassen wir uns nicht nehmen.
Wie würden Sie die politische und soziale Lage derzeit in einem Satz charakterisieren?
Extrem schlecht und angespannt. Algerien ist ein Pulverfaß, das jederzeit explodieren könnte.
Interview: Martin Lejeune
* Aus: junge Welt, 3. März 2011
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