Algerien: Ausgemachte Komplizenschaft
Offener Brief an die französische Regierung
Nachfolgender Aufruf kann noch unterschrieben werden. Unterzeichner wenden sich bitte per e-mail an:
ruf@hrz.uni-kassel.de
Die Liste der Menschenrechtsverletzungen in Algerien ist lang: Zwei
Bücher, die jetzt auf dem französischen Markt erschienen sind, belegen die
Verstrickung der algerischen Sicherheitsdienste. Die französische
Regierung aber setzt ihre "normale" Politik gegenüber Algerien fort, wie
der gestrige 24-Stunden-Besuch des Außenministers Hubert Védrine belegt.
Ein Grund für französische Intellektuelle, in einem offenen Brief an die
französische Regierung vor einer Komplizenschaft zu warnen. Wir
dokumentieren den Brief leicht gekürzt.
Algerien ist seit über neun Jahren Schauplatz eines grauenvollen Krieges und
massiver Menschenrechtsverletzungen: Tausende von Menschen wurden entführt
und gelten seither als verschwunden; Folter wird von den Sicherheitskräften als
systematische Praxis eingesetzt; Massaker im großen Ausmaß, offiziell
bewaffneten islamistischen Gruppen zugeschrieben, werden an der Zivilbevölkerung
verübt. Dieser Krieg hat Schätzungen zufolge 200 000 Menschenleben gefordert,
und die Zahl der Verschwundenen beläuft sich auf 10 000 bis 20 000. Etwa eine
halbe Million Menschen sind aus dem Land geflohen. Die massive inländische
Fluchtbewegung auf Grund der Sicherheitslage und der Zwangsvertreibungen betrifft
eine noch größere Bevölkerungszahl.
Zahlreiche Zeugnisse lieferten Belege dafür, dass ein Großteil dieser
Menschenrechtsverletzungen von Sicherheitskräften verübt wurde. Darüber hinaus
wird weder die Zivilbevölkerung geschützt, noch werden die Verantwortlichen für die
Verbrechen verfolgt. Und eine ernsthafte gerichtliche Untersuchung ist bislang noch
nie angestrengt worden. Immer mehr Anhaltspunkte bestätigen die These, dass die
höchsten Ebenen des Staatsapparates in die Massaker und das
Verschwindenlassen verstrickt sind. Zwei kürzlich in Frankreich erschienene
Bücher erheben schwerwiegende Anschuldigungen gegenüber der algerischen
Militärführung. Nesroulah Yous, ein Überlebender eines der grausamsten Gemetzel
im Sommer 1997, dem 400 Menschen zum Opfer fielen, ist der Verfasser von Qui a
tué ŕ Bentalha? (Wer tötete in Bentalha?). Er beschreibt die Umstände dieses
Mordens in allen Einzelheiten. Obwohl sich Militäreinheiten in unmittelbarer Nähe
befanden, griffen diese nicht ein, um die Angreifer an ihrem Tun zu hindern und die
Bevölkerung zu schützen. Es gibt viele Hinweise dafür, dass dieses Massaker
ohne die aktive Verwicklung von Teilen der Sicherheitskräfte nicht hätte stattfinden
können.
Das zweite Buch La sale guerre (Der schmutzige Krieg) stammt von Habib
Souaidia, einem ehemaligen Offizier der Spezialkräfte, der von 1992 bis 1995 an
der Terrorismusbekämpfung beteiligt war. Dieses Zeugnis enthält konkrete und
eindeutige Beweise für diese aktive Beteiligung der Sicherheitskräfte. Der Autor
beschreibt die Methoden der Armee bei einem Vorgehen, das sich als eine
perfekte Strategie des Terrors entpuppt: Massenverhaftungen,
Durchkämmungsoperationen, Folterungen, extralegale Hinrichtungen von
mutmaßlichen Islamisten sowie von einfachen Bürgern und Massaker an
Dorfbewohnern, die anschließend den bewaffneten Gruppen zugeschrieben werden
. . .
Durch diese Zeugnisse wird die lange vermutete Verstrickung der Militärführung in
Verbrechen gegen die Menschheit und die Unterhaltung des islamistischen Terrors
so nachdrücklich belegt, dass damit die Forderung nach der Entsendung einer
internationalen Untersuchungskommission, die seit Jahren von der internationalen
Gemeinschaft abgelehnt wird, nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Es wäre
Selbstbetrug, die durch so viele Zeugnisse gesammelten Tatsachen unter dem
Vorwand, sie stellten keine rechtskräftigen Beweise dar, nicht anerkennen zu
wollen. Wie sollten denn auch solche Beweise geliefert werden, wenn verlässliche
Untersuchungen gar nicht möglich sind? Und wie sollte eine unabhängige und
unparteiische Untersuchung unter Bedingungen durchgeführt werden, in denen
Recht und Gesetz missachtet werden? Diesbezüglich ist Algerien keine
Ausnahme. Und es müssen die gleichen Prinzipien des internationalen Rechts
angewandt werden wie im Zusammenhang mit anderen Diktaturen (Chile,
Argentinien, El Salvador, Guatemala, etc.).
Wie im Falle jener Länder sind Demokratie und Rechtsstaat auch in Algerien nur
möglich unter der Voraussetzung einer politischen Lösung des Konfliktes, und
zwar durch einen von klaren Regeln bestimmten Dialog, der keine der politischen
Strömungen ausschließt, die den Einsatz von Gewalt ablehnen. Die verschiedenen
Anstrengungen des algerischen Staates, deren jüngste die "zivile Eintracht" ist,
kommen dieser Notwendigkeit nicht nach und tragen daher eher dazu bei,
Undurchsichtigkeit und Konfusion zu vergrößern, Spannungen zu verschärfen, das
Ausmaß der Gewalt zu erhöhen und die Straflosigkeit festzuschreiben. Dieser
extrem verschärften Situation sind die üblichen zurückhaltenden Verurteilungen der
Gewalt und die allgemeinen Deklarationen über die Einhaltung der Menschenrechte
längst nicht mehr angemessen. Vor dem jetzigen Hintergrund darf man sich nicht
mit "vorsichtigem diplomatischen Druck" begnügen: Das Blutbad muss umgehend
beendet werden. Und die Verantwortlichen, wer sie auch immer seien, müssen
strafrechtlich belangt werden.
Hat die französische Regierung nicht schon viel zu lange die algerische Politik
unterstützt, eine Politik, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung in
Wirklichkeit nichts anderes darstellt als die politische und physische Ausmerzung
jeglicher Opposition, was faktisch einer Massenvernichtung der Zivilbevölkerung
gleichkommt? Frankreich kommt eine entscheidende Rolle beim Aufbau der
Kriegsmaschinerie in Algerien zu. Dem französischen Einsatz für Abbau und
Umschuldung der Auslandsschulden gegenüber dem IWF und den Clubs von Paris
und Rom 1994 ist es maßgeblich zu verdanken, dass politische Auflagen
vermieden und so der "totale Krieg" finanziert werden konnten. Frankreich hat
zudem hochentwickelte Waffensysteme an Algerien geliefert und algerische
Offiziere in elektronischer Kriegsführung sowie Elitetruppen für schnelle Eingriffe
ausgebildet, die - so berichtet Habib Souaidia - an den grauenhaftesten Übergriffen
und Massentötungen teilnahmen.
Darüber hinaus macht die im Januar erfolgte Unterzeichnung einer Konvention zur
Terrorismusbekämpfung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Algerien
noch vor dem Abschluss der Verhandlungen über einen Assoziationsvertrag, der
die Einhaltung der Menschenrechte und die Förderung demokratischer Prinzipien
beinhaltet, deutlich, dass Algerien im Widerspruch zu den Grundsätzen der
Erklärung von Barcelona immer noch eine Vorzugsbehandlung genießt.
Während in Frankreich endlich eine breite öffentliche Debatte über die
systematische Folter während des algerischen Befreiungskrieges begonnen hat,
welche die Verantwortung der damaligen französischen politischen Führung, die
den Einsatz der Folter mit der "Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung"
rechtfertigte, aufgezeigt hat, rechtfertigt heute die selbe politische Klasse die
schlimmsten Menschenrechtsverletzungen auf algerischem Boden. Der
französische Staat und die französische Diplomatie haben bis heute eine aktive
und tatkräftige Rolle gespielt, um eine Verurteilung Algeriens und die Entsendung
von Sonderberichterstattern zu verhindern. Die Eröffnung der nächsten Sitzung der
Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen steht unmittelbar bevor.
Angesichts des Umfangs und der Schwere der vorliegenden Tatsachen müsste
Algerien nicht nur streng verurteilt, sondern müssten zudem Berichterstatter für
Menschenrechte der UN umgehend entsandt werden.
Die beiden Bücher (erschienen im renommierten Verlag La Découverte, Paris) sind
Elemente einer erdrückenden Aktenlast, die sich aus einer Vielzahl seit Jahren
gesammelten, gut dokumentierten Zeugnissen und Berichten zusammensetzt.
Auch wenn hier nur die Europa direkt betreffenden Fälle genannt werden, so ist die
Verstrickung der algerischen Sicherheitsdienste durch Zeugnisse und Analysen
doch hinreichend belegt (Entführung der französischen Konsulatsangestellten in
Algier; Ermordung der Mönche des Klosters Tibehirine, der sieben italienischen
Seeleute, des Bischofs von Oran Mgr. Claverie; Enthüllungen der britischen Justiz
über die Verstrickung des algerischen Geheimdienstes in terroristische
Operationen in Europa; umstrittene Prozesse von mutmaßlichen islamistischen
Terroristen in Frankreich, usw.), um Fragen über die Passivität und das Schweigen
der EU-Mitgliedsstaaten aufkommen zu lassen. (. . .)
Wir appellieren mit allem Nachdruck an die französische Regierung, auch um ihr
zu sagen, dass es viele Menschen gibt in Algerien, Frankreich und Europa, die
davon überzeugt sind, dass ihre Algerienpolitik nicht mehr nur einfach als normale
Beziehung zwischen zwei Staaten gelten kann, sondern als ausgemachte
Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschheit.
Unter den Erstunterzeichnern/Erstunterzeichnerinnen: Pierre Bourdieu (Professor
für Soziologie), François Gčze (Verleger, La Découverte), Alain Joxe (Politologe),
Jeanne Kervyn (Soziologin); Gema Martin-Munoz (Professorin für
Politikwissenschaften), Salima Mellah (Journalistin); Véronique Nahoum-Grappe
(Anthropologin), Werner Ruf (Professor für Politikwissenschaften), Fatiha Talahite
(Ökonomin), Brahim Taouti (Rechtsanwalt), Pierre Vidal-Naquet (Historiker).
(Übersetzung: algeria-watch (www.algeria-watch.org)
Dieser Aufruf wurde am 14. Februar 2001 in der Frankfurter Rundschau dokumentiert.
Zurück zur Algerien-Seite
Zurück zur Seite "Regionen"
Zurück zur Homepage