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Algerien: Europa muss handeln!

Ein dringender Appell an die Regierungen und die Justiz der europäischen Staaten

Im Folgenden dokumentieren wir einen Appell europäischer Intellektueller, die sich für ein stärkeres politisches und rechtliches Engagement der europäischen Staaten zugunsten des Schutzes der Menschenrechte in Algerien einsetzen. Wer den Appell unterzeichnen möchte, kann dies per e-mail tun: ruf@uni-kassel.de (Werner Ruf)
Der Aufruf erscheint in der hier vorliegenden Form mit den untenn aufgeführten Erstunterzeichnern am 14. Mai 2001 in der Frankfurter Rundschau.

Algerien: Europa muss handeln!

Als Bürger Europas empfinden wir das Schweigen und die Ausflüchte unserer Regierungen und der Europäischen Union angesichts der Ereignisse in Algerien als unerträglich. Seit 1992 wurde keine nennenswerte Anstrengung von unseren Repräsentanten unternommen, um einen Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens in diesem Land und zur Beendigung der Gewalt, die Zehntausenden das Leben gekostet hat, zu leisten. Heute ist es nicht länger möglich, das algerische Regime von jeder Schuld freizusprechen. Und es kann auch keine Rechtfertigung für diese verbrecherische Gleichgültigkeit durch den Verweis auf eine angebliche Undurchsichtigkeit des Konfliktes geben.

Seit mehreren Jahren lassen viele Zeugnisse, zu denen auch der kürzlich erschienene Bericht eines ehemaligen Offiziers der Sondereinheiten gehört, keinen Raum mehr für Zweifel an der aktiven Beteiligung des Regimes an den Mordtaten gegenüber der algerischen Zivilbevölkerung. Es ist die kleine Gruppe von Generälen an der Spitze der Armee, die die wirkliche Macht in Algerien verkörpern und die Hauptverantwortlichen für den "schmutzigen Krieg" sind. Sie sind es, die kaltblütig einen Ausrottungskrieg gegen die gesamte Opposition entfachten, ohne dabei vor irgendeinem Verbrechen zurückzuschrecken, das nach den Statuten des zukünftigen internationalen Strafgerichtshofs als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnet werden muss: Mord, Systematische Folter, extralegale Hinrichtungen, Entführungen usw. Sie sind es, die sich in voller Absicht dafür entschieden, die Verbrechen der Mitglieder der islamistischen bewaffneten Gruppen ungestraft zu lassen (viele Hinweise deuten darauf hin, dass sie seit über einem Jahr das Gesetz zur "zivilen Eintracht" einsetzten, um die von ihnen in den Untergrund eingeschleusten Agenten zu rehabilitieren und zugleich bestimmte "Reumütige" zu liquidieren, die sich weigerten, zu Hilfskräften der Sicherheitskräfte zu werden).

Sie sind es, die sich erneut, wie schon bei den Unruhen im Oktober 1988 und bei anderen Gelegenheiten, für den totalen Terror entschieden, in der Hoffnung, die Krise, die durch diese Enthüllungen in ihren eigenen Reihen ausgelöst wurde, zu überwinden. Sie zögerten in den letzten Wochen nicht, wiederholt Provokationen der Gendarmerie in der Kabylei zu veranlassen, um sodann die Aufstände der empörten Jugend brutal, zum Preis von Dutzenden von Toten niederzuschlagen. Durch das Töten unbewaffneter Jugendlicher bestätigen sie ihre maßlose Verachtung für das Leben ihrer Mitbürger. Und sie zeigen, dass sie zu allem bereit sind, um ihre skandalösen Privilegien und Korruptionsgewinne zu retten.

Sie sind es schließlich, die ein politisches System geschaffen haben, das es ihnen erlaubte, auf das Wohlwollen der verschiedenen Staatspräsidenten zu setzen, die den kriminellen und unverantwortlichen Einsatz der Sicherheitskräfte niemals verurteilten oder bestraften.

Wir können es nicht mehr dabei bewenden lassen, die Notwendigkeit unserer Solidarität mit den Familien der Opfer und den algerischen Demokraten, die dieser blutigen Diktatur im Dienste des Friedens ein Ende setzen wollen, zum Ausdruck zu bringen. Wir wenden uns daher an unsere Regierungen und die zuständigen Institutionen der Europäischen Union mit der Forderung, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte, die sie in unserem Namen unterzeichnet haben und die auch Algerien unterzeichnet hat, Geltung zu verschaffen. Wir fordern sie dazu auf, im Einklang mit der Erklärung von Barcelona zu handeln, die im November 1995 eine "Europa-Mittelmeer-Partnerschaft" ins Leben rief. Im Rahmen dieser Erklärung verpflichteten sich alle Unterzeichnerstaaten dazu, "die Menschenrechte und die Grundfreiheiten zu achten sowie die legitime Ausübung dieser Rechte und Freiheiten einschließlich der Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit zu friedlichen Zwecken und der Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion zu garantieren."

Ohne andere Initiativen ausschließen zu wollen, fordern wir:
  • die Zustimmung zum Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Algerien, die kurz bevorstehen soll, mit Bedingungen bezüglich der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit seitens des algerischen Staates und seiner Sicherheitskräfte ebenso zu verknüpfen wie mit der Forderung nach Bestrafung der von letzteren und islamistischen bewaffneten Gruppen begangenen Verbrechen entsprechend gültigen völkerrechtlichen Normen. Dies schließt insbesondere ein, dass die Regierung endlich den geforderten Untersuchungen der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter und Verschwindenlassen in Algerien zustimmt.
  • unverzüglich die Mechanismen der "universellen Zuständigkeit" in Kraft zu setzen, die es den Mitgliedsstaaten der Union ermöglichen, algerische Militärs, die sich auf ihrem Staatsgebiet aufhalten und der Verantwortung oder Mitschuld an schweren Menschenrechtsverletzungen verdächtigt werden, mittels ihrer eigenen Gerichtsbarkeit festzunehmen und gegebenenfalls zu verurteilen. Diesbezüglich verurteilen wir die Haltung der französischen Regierung, die erlaubt hat, dass der General im Ruhestand Khaled Nezzar am 25. April "ausgeschleust" wurde, um den Strafanzeigen zu entgehen, die am selben Tag in Paris von Folteropfern eingereicht wurden. Und wir verurteilen entschieden, dass die Identität der Kläger (deren Anonymität in der Öffentlichkeit aufgrund naheliegender Sicherheitsmaßnahmen gewahrt wurde) - höchstwahrscheinlich von der französischen Polizei - den algerischen Behörden mitgeteilt wurde, die sogleich mit Druck und Einschüchterung gegen ihre Familien in Algerien vorgingen.
  • bei den Vereinten Nationen aktiv zu werden mit der Forderung nach sofortiger Einrichtung eines internationalen Straftribunals zur Verurteilung der Verantwortlichen aller am Konflikt beteiligten Seiten für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit in Algerien.

Erstunterzeichner
  • Deutschland: Daniel Cohn-Bendit (Europaabgeordneter), Werner Ruf (Professor der Politikwissenschaft an der Gesamthochschule Kassel)
  • Belgien: Herman de Ley (Politologe, Université de Gand), Jeanne Kervyn (Soziologin)
  • Spanien: Juan Goytisolo (Schriftsteller), Gema Martin-Munoz (Professorin an der Universität Madrid), Jose Maria Ridao (Schriftsteller und Diplomat)
  • Frankreich: Etienne Balibar (Philosoph, Universität Paris), Pierre Bourdieu (Professor am Collčge de France), François Burgat (Politologe, CNRS), Joel Roman (Zeitschrift Esprit), Pierre Vidal-Naquet (Forschungsdirektor am EHESS)
  • Italien: Linda Bimbi (Internationale Lelio Basso Stiftung), Anna Bozzo (Historikerin, Universität Rom), Louis Godart (Accademia die Lincei), Ferdinando Imposimato (Vizeehrenpräsident des Bundesgerichtshofes), Tina Lagostena Bassi (Rechtsanwältin), Emanuele Macaluso (Senatorin), Igor Man (Leitartikler La Stampa), Predrag Matvejevic (Schriftsteller, Professor Universität La Sapienza Rom), Ettore Mo (Schriftsteller, Leitartikler Corriere della sera)
  • Großbritannien: William Byrd (Ökonom), George Joffe (Professor für Geographie, Universität London), Claire S. Spencer (Politologin, Universität London)
  • Schweiz: Marie-Claire Caloz-Tschopp (Philosophin, Universität Genf)
  • Schweden: Ĺke Sander (Prof. Religious studies, Göteborg University)

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