Kein Wunder in Sicht
Albaniens Wirtschaft leidet weiter unter Clanstrukturen, Unterentwicklung und den Folgen einer verfehlten Privatisierungspolitik
Von Raoul Rigault *
Der Traum vom »Großalbanien« wird weitergeträumt. Dafür sorgt auch die
Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung der serbischen Provinz Kosovo
durch den Internationalen Gerichtshof in der vergangenen Woche. Eine
wirtschaftliche Perspektive liefert diese »Vision« nicht. Die Republik
Albanien ist nach Moldawien das zweitärmste Land Europas und bietet
wenig Anlaß zur Hoffnung, daß sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern
wird. Einziger Vorteil, auf den Tirana verweisen kann, ist die Tatsache,
daß man zu den wenigen zählte, die trotz globaler Krise auch 2009 ein
Wirtschaftswachstum (3,3 Prozent) aufweisen konnten.
»Wer fast nichts exportiert, dem brechen auch keine Exportmärkte weg«,
brachte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) diesen Umstand auf den Punkt. So
betrug das Ausfuhrvolumen im vergangenen Jahr lediglich 800 Millionen
Euro. Das EU-Mitglied Slowenien kam mit zwei Drittel der Bevölkerung
immerhin auf 16 Milliarden. Knapp die Hälfte der albanischen Exporte
bestand aus Textilien und Schuhen, ein Fünftel aus Brenn- und
Kraftstoffen, ein weiteres Achtel aus Baumaterial und Metall.
Zerstörte Landwirtschaft
Ins Auge springt die große Abhängigkeit von der ehemaligen
Besatzungsmacht Italien. Die ist mit 62,8 Prozent Hauptabnehmer und mit
26,1 Prozent auch wichtigster Lieferant Albaniens. Der strategische
Verbündete der 60er und 70er Jahre - die Volksrepublik China - ist unter
den zehn bedeutendsten Handelspartnern nicht mehr zu finden. Das
Protektorat Kosovo (2,2 Millionen Einwohner) spielt als Lieferant gar
keine, als Abnehmer mit 6,9 Prozent nur eine untergeordnete Rolle. Die
hohe Importabhängigkeit führt zu einem rekordverdächtigen
Außenhandelsdefizit. Nur ein Viertel der Einfuhren ist durch Ausfuhren
gedeckt. Folge war 2008 und 2009 ein Leistungsbilanzminus von 16 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Mit anderen Worten - die einst sehr
auf ihre Eigenständigkeit bedachte Skipetarenrepublik hängt am Tropf.
Linderung verschaffen Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten. Deren
Volumen sank allerdings 2009 auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahren.
Mit 781 Millionen Euro machen sie zwar immer noch neun Prozent des BIP
aus, doch 2007 hatten sie noch bei 951 Millionen Euro gelegen. Dies ist
eine indirekte Folge der Krise, die die Löhne drückte und zahlreiche
Arbeitsplätze kostete. 800000 Albaner suchten ihr Glück in Athen, Piräus
oder Saloniki. Dort sind sie nun zu den Hauptleidtragenden des
Finanzdesasters geworden. »Die Gelder aus Griechenland sind eine
dringend nötige Luftzufuhr für Albaniens Wirtschaft«, sagt der
Ökonomieprofessor und Rektor der Universität von Tirana, Adrian Civic.
Noch größer wird das Problem, wenn eine nennenswerte Anzahl dieser
Gastarbeiter zurückkehrt. Das nur 3,2 Millionen Einwohner zählende Land
kann ihnen keine Jobs bieten. Bereits jetzt beträgt die offizielle
Erwerbslosenrate 14 Prozent. Die bezieht sich allerdings nur auf die
Städte, das heißt auf knapp die Hälfte der Bevölkerung. Auf dem Land
herrscht per Dekret Vollbeschäftigung - eine weitere Absurdität
Albaniens unter der rechten Regierung von Sali Berisha und seiner
Demokratischen Partei. Die Exekutive geht der Bequemlichkeit halber
davon aus, daß sich die Menschen auf den Dörfern mit Ackerbau und
Viehzucht irgendwie über Wasser halten werden.
Obwohl der Agrarsektor einen Beschäftigungsanteil von 57 Prozent
aufweist, müssen mehr als 40 Prozent der Nahrungsmittel importiert
werden. Die Bestellung der eigenen Felder dient überwiegend der
Selbstversorgung. Für Verkauf und Export mangelt es nicht nur an
Vermarktungsmöglichkeiten, sondern vor allem an der notwendigen
Produktivität, die für Überschüsse sorgen könnte. Hauptursache dieser
Misere ist die extreme Parzellierung der Flächen. Nachdem Anfang der
90er Jahre unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und
anderer westlicher »Experten« die staatlichen Genossenschaften aufgelöst
und die Böden kostenlos unter ihren ehemaligen Mitgliedern aufgeteilt
wurden, bewirtschaften die Bauern im Schnitt nur 2,1 Hektar. Viele von
ihnen kommen sogar nur auf 0,2 bis 0,4 Hektar. Standortnachteil sind
auch die EU-Subventionen, in deren Genuß die Konkurrenz in Griechenland
und Italien kommt.
Verschwundene Industrie
Auch die Industrie steht noch schlechter da als früher. Nach der
Abwicklung großer Teile der Schwerindustrie trägt das verarbeitende
Gewerbe nur noch neun Prozent zum BIP bei. Ähnlich wie in vielen
lateinamerikanischen Ökonomien machen hierbei zumeist fragwürdige
Dienstleistungen mit 57,6 Prozent den Löwenanteil aus. Besserung ist
nicht in Sicht. Es mangelt an eigenem Kapital. Und die ausländischen
Direktinvestitionen (in den letzten 16 Jahren gerade mal 3,7 Milliarden
Euro) flossen jüngsten Zahlen zufolge zu 40,5 Prozent in den Bereich
Transport, Lagerung und Kommunikation und zu einem weiteren Drittel in
Finanzdienstleistungen. Die Industrie erreichte davon nur gut ein Zehntel.
Kapitalgeber werden durch die verbreitete Clanwirtschaft und den
willkürlichen Umgang mit den eigenen bzw. den Gesetzen der Amtsvorgänger
abgeschreckt. So beklagt das deutsche Auswärtige Amt ein »bisher
schwieriges Investitionsklima«, das »zu verbessern« sei. »Die schwache
Verwaltung und Justiz ist oft nicht fähig und gelegentlich nicht
willens, die - häufig wechselnden - Rechtsvorschriften anzuwenden. Im
Konfliktfall ist Rechtsschutz durch die Justiz kaum zu erreichen.« Die
NZZ spricht von »einer personellen - statt einer institutionellen -
Staatsführung«. Da helfen selbst eine Flat-Rate-Steuer von nur zehn
Prozent, mithin eine »in Europa fast beispiellos milde Steuerbelastung«
(NZZ), und Arbeitsmarktregeln, die zu einem Mindestlohn von 18000 Lek
(130 Euro) sowie einen Durchschnittsgehalt von 40874 Lek (300 Euro)
nicht weiter.
* Aus: junge Welt, 30. Juli 2010
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