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Im Sahel droht die nächste Krise

Zwölf Millionen Menschen in Afrika brauchen Nahrungsmittelhilfe

Von Kristin Palitza, Gaet Teidouma *

Kaum ist die Hungersnot am Horn von Afrika für beendet erklärt worden, droht in der Sahelzone bereits die nächste. Extreme Dürre hat die Ernten schrumpfen lassen.

In Gaet Teidouma, einem kleinen Dorf mehr als 800 Kilometer östlich der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott, sitzt Kertouma Mint Sedatty mit gekreuzten Beinen in einem klapprigen Zelt. Verloren starrt sie über die verdorrte Landschaft aus Sand und steinigem Boden. Ihr acht Monate alter Sohn Mohammed saugt verzweifelt an ihrer flachen Brust. Doch Sedatty hat kaum Milch, um ihr Kind zu ernähren. »Wir haben seit ein paar Tagen nichts mehr zu essen. Als im Juli der Regen nicht kam, wuchs unsere Hirse nicht. Meine Kinder haben Hunger. Unsere drei Kühe finden nichts zu fressen, geben keine Milch mehr«, klagt die 39-jährige Mutter von sieben Kindern. »Wir erwarten ein sehr schweres Jahr. Die meisten Menschen werden es nicht überleben.«

Wettlauf gegen die Zeit

Erst vor einem Monat haben die Vereinten Nationen (UNO) verkündet, die Hungersnot in Somalia sei überwunden. Sie hat zwischen 100 000 und 150 000 Menschen das Leben gekostet. Jetzt droht eine weitere Katastrophe. Hilfsorganisationen warnen, dass aufgrund von Ernteausfällen im Sahel zwölf Millionen Menschen hungern werden. Und das sechs Monate vor Beginn der nächsten Regensaison - falls sie dieses Jahr wieder eintrifft.

Für die Bevölkerung der öden Zone südlich der Sahara, die sich durch Mauretanien über Mali, Niger, Tschad, Sudan und Eritrea sowie die nördlichen Regionen Senegals, Burkina Fasos, Nigerias und Kameruns zieht, hat ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen. »Wenn wir nicht schnell handeln, werden innerhalb weniger Monate Menschen anfangen zu hungern«, sagte Kristalina Georgiewa, die bulgarische EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe.

Bereits fünf Regierungen der Sahel-Staaten haben um internationale Hilfe ersucht. »Die Dürre ist extrem. Wir brauchen dringende Eingriffe, um eine Krise zu verhindern«, sagt Ahmed Weddady, Direktor des Wasserministeriums in Mauretanien. Das Land mit den geringsten Trinkwasservorräten der Welt hat die größten Ernteausfälle der Region erlitten. Es wird sich zeigen, ob die Geberländer diesmal schnell genug reagieren. Die Finanzierungslücke ist jedenfalls erheblich: Wie das Welternährungsprogramm der UNO am Mittwoch bei einem Treffen mit Hilfsorganisationen in Rom mitteilte, werden 800 Millionen Dollar (rund 612 Millionen Euro) für einen Einsatz im Sahel benötigt. Zugesagt sind bisher aber nur etwa 100 Millionen Dollar.

Wiederkehrende Dürren

Je länger die Geber abwarteten, desto mehr Menschenleben setzten sie aufs Spiel und desto teurer werde es zu helfen, glaubt José Luis Fernandez, der regionale Nothilfekoordinator der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO). »Das ist die Lektion, die wir in Somalia gelernt haben. Wir müssen sofort agieren«, sagt Fernandez.

Es koste zehn bis zwanzig Mal mehr, Nahrungsmittel über eine Luftbrücke einzufliegen, als sie auf dem Landweg zu transportieren. Außerdem fallen für die Behandlung eines akut mangelernährten Kindes täglich 80 Dollar an. Dabei bedarf es nur eines Dollars pro Tag, um Mangelernährung zu verhindern. Doch langfristige Entwicklungsprogramme seien im Sahel bisher kaum umgesetzt worden. Die Region leidet unter zyklischen Dürren, die mit den Jahren die Widerstandskraft in der Bevölkerung haben schwinden lassen. Sogar in einem »normalen« Jahr sind die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren chronisch mangelernährt. Damit ist es bis zum Hungertod nur ein kleiner Schritt.

Einer der Gründe für die wiederkehrenden Dürren ist der Klimawandel, sagen Experten. Laut einer im Dezember 2011 veröffentlichten Studie der Universität Berkeley haben sich die Regenfälle seit 1954 halbiert, während die Temperatur durchschnittlich um 0,8 Grad Celsius gestiegen ist. Wüstenbildung und Umweltzerstörung sind die Folge. Verbunden mit Bevölkerungswachstum, akuter Armut, mangelndem Zugang zu Dienstleistungen und schwachen Regierungen hat sich der Wettbewerb um knappe Ressourcen intensiviert - in einer Region, in der die Mehrheit von Ackerbau und Viehhaltung abhängig ist.

Die gegenwärtige Dürre wurde von der UNO als die »schlimmste in Jahrzehnten« bezeichnet. Die Nahrungsmittelpreise haben sich verdoppelt oder sogar verdreifacht. Der Preis für Vieh, an dem oft der Reichtum der Menschen gemessen wird, ist dagegen drastisch gefallen, seit Weideland austrocknet. Die Straßen sind mit Kuhkadavern gesäumt. Schafe und Ziegen werden bald folgen, sagen die Leute, zuletzt die Kamele.

Nothilfe reicht nicht aus

Nothilfe kann den Menschen nur kurzfristig helfen, es brauche langfristige Arbeit. »Wir müssen die Ursachen ständiger Nahrungsmittelunsicherheit angehen. Sonst wird es jedes Jahr eine neue Krise geben«, sagt Johannes Schoors, Direktor der Hilfsorganisation CARE in Niger. Es bedürfe Investitionen in landwirtschaftliche Entwicklung, Gesundheits- und Sozialsysteme, Wasser- und Sanitärversorgung sowie die Anpassung an den Klimawandel, erläutert Schoors. Auch Infrastruktur sei vonnöten. »Da die Menschen weit verstreut leben, ist die Logistik kompliziert und teuer.«

Gewaltsame Übergriffe erschweren die Situation. Im Januar brachen Gefechte zwischen Malis Armee und nomadischen Tuareg-Rebellen aus. Erst zu Wochenanfang verübten sie ein Massaker an rund 100 Soldaten und Zivilisten. Im Norden Nigerias terrorisiert die islamistische Boko Haram die Menschen. Zusätzlich ist eine Al-Qaida Gruppe in der Region aktiv, die Zugang zu Waffen hat. Laut dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF wurden Anfang Februar erste Hilfslieferungen verhindert. »Es wird immer schwieriger, Menschen in Not zu erreichen. Wir müssen damit rechnen, dass die Region von langfristiger Instabilität heimgesucht wird«, sagt die UNICEF-Ernährungsberaterin Felicité Tchibindat.

Die Konflikte haben bereits Tausende zur Flucht gezwungen. Mindestens 22 000 Menschen sind schon in Mauretanien, Burkina Faso und Niger eingetroffen. Die meisten überqueren die Grenzen in den Gegenden, die am schärfsten von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. »Das macht es doppelt schwer, Nothilfe zu leisten, und kann zu neuen Spannungen führen«, schätzt Fernandez.

* Aus: neues deutschland, 17. Februar 2012


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