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Der lange Marsch führt über den Minengürtel

Immer mehr Flüchtlinge versuchen, durch die Hintertür in die "Festung Europa" zu gelangen

Von Susanne Götze *

Der EU-Afrika-Gipfel betonte in seiner Schlusserklärung am Dienstag (30. Nov.) im libyschen Tripolis die Bedeutung der Zusammenarbeit beider Seiten. Das Problem der afrikanischen Flüchtlinge aber wurde ausgeblendet.

Seit fünf Jahren schon sitzt N. in einem türkischen Hotelzimmer und wartet auf die Chance seines Lebens. Der junge Mauretanier ist allein. Ohne Familie, ohne Geld, ohne Perspektive. Er hat schon mehrere Male versucht, nach Griechenland zu kommen – vergebens. Um sicher über die EU-Grenze zu gelangen, braucht er mindestens 1200 Dollar – und viel Glück.

Von solchen ausweglosen Situationen erzählt der aktuelle Bericht der französischen Nichtregierungsorganisation Migreurop, deren Partner in ganz Europa die Situation an Grenzen und in Flüchtlingslagern beobachten. Griechenland ist mittlerweile zum Einwanderungsland Nummer eins für Flüchtlinge geworden, die »illegal« in die EU einreisen wollen. Traditionell versuchten vor allem Menschen aus Afghanistan, Irak und Iran, über die türkisch-griechischen Grenze zu kommen – nun sind unter ihnen immer mehr Afrikaner aus Tschad, Nigeria, Mali oder Mauretanien.

Denn in den letzten Jahrzehnten kamen die meisten afrikanischen Flüchtlinge vor allem übers Mittelmeer – mit alten, brüchigen Booten. An den Mittelmeerküsten in Italien und Spanien und an griechischen Inseln strandeten jährlich hunderte halb verhungerte und kranke Menschen in überfüllten Booten. Doch die Küsten im Mittelmeer sind mittlerweile so gut gesichert, dass kaum mehr ein Boot eine Chance hat, überhaupt an Land zu kommen. Allein in der Ägäis sind von 2007 bis 2009 laut dem Bericht von Migreurop über 500 Menschen ertrunken. Migreurop macht italienische, spanische und griechische Behörden für zahlreiche fahrlässige Verstöße gegen die Menschenrechte verantwortlich.

Viele Afrikaner machen sich nun auf einen langen Weg: Aus Nord- oder sogar Zentralafrika marschieren sie über Libyen, Ägypten, Israel – oft auch mit einem Umweg über Jordanien und Syrien – bis in die Türkei, um von dort aus über die Region Evros nach Griechenland zu gelangen. Hier treffen die Flüchtlinge nun mit den Migrantenströmen aus Irak, Iran und Afghanistan zusammen.

Evros ist das Nadelöhr und die einzige griechisch-türkische Landgrenze – für Afrikaner die nächste Landgrenze zur EU überhaupt. Laut der EU-Grenzsicherungstruppe Frontex ist die Region mittlerweile zur meistgenutzten Hintertür in die »Festung Europa« geworden. Sie ist 80 Kilometer lang und 12 Kilometer breit. Während in Südeuropa immer weniger Flüchtlinge an den Strand »gespült« werden, hat sich hier die Zahl der illegalen Grenzübertritte in diesem Jahr laut Frontex um sage und schreibe 370 Prozent erhöht. Insgesamt wurden 32 000 Menschen gezählt. Auf dem Seeweg in der Ägäis hat man vor einem Jahr allein 10 000 Flüchtlinge festgenommen, in diesem Jahr sind es noch rund 5000 Grenzübertritte.

Flüchtlinge wie der junge Mauretanier versuchen nun, durch die Wälder von Evros über die Grenze zu kommen. Das ist schon deshalb gefährlich, weil die Grenze vom letzten militärischen Konflikt immer noch vermint ist. Zwischen 2007 und 2009 wurden 90 Menschen zu Minenopfern. Haben es die Migranten tatsächlich auf die europäische Seite geschafft, greifen die Behörden die Flüchtlinge auf und stecken sie in Abschiebelager. Nach mehreren Monaten werden sie meist wieder an die Grenze zurückgebracht. Griechenland ist dafür bekannt, sehr selten Asylanträgen stattzugeben, laut Migreurop-Bericht in weniger als einem Prozent der Fälle. Sobald sie griechischen Boden betreten haben, versuchen die meisten Flüchtlinge deshalb, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Doch selbst wenn die Flüchtlinge es nach Italien oder sogar nach Belgien oder Frankreich geschafft haben, werden sie von den Behörden nach der Verordnung Dublin II (2003) wieder in den Staat zurück geschickt, in den sie zuerst eingewandert sind oder wo sie einen Antrag gestellt haben – in diesem Falle also nach Griechenland. Es beginnt ein endloses Hin und Her zwischen Abschiebelagern. Letztlich landen die meisten auf kollektiven »Rücktransporten« per Lkw Richtung Außengrenze.

Demnächst soll es in der griechischen Evros-Region auch eine neue Zentrale der EU-Grenzsicherungstruppe Frontex geben – um die Informationen über die »Grenzaktivitäten« besser kontrollieren zu können. Auch Griechenland hat eine härtere Gangart angekündigt. Und die Türkei als »Transitland« sieht die Immigrationsfrage als Chance, enger mit der EU zu kooperieren, und hat im März ein entsprechendes Gesetz gegen illegale Einwanderung erlassen. Nordafrikanische Staaten wie Libyen nutzen das Elend ihrer Nachbarn und die Angst Europas sogar noch aus: So fordert Staatschef Muammar Gaddafi unumwunden fünf Milliarden Euro pro Jahr für die »Hilfe bei der europäischen Grenzsicherung«. Er werde nicht umsonst den Grenzwächter für Europa spielen, sagt Gaddafi. Doch wenn er es nicht tue, werde Europa bald »schwarz« sein.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Dezember 2010


Afrika-EU-Gipfel ohne Einigung

Streitpunkte bleiben Handelsabkommen, Marktöffnung und Klimaschutz **

Die Staaten Afrikas und der EU haben auf einem Gipfel in Tripolis den Ausbau ihrer Zusammenarbeit vereinbart. Wichtige Streitpunkte endeten allerdings ohne Einigung.

Zum Abschluss des Afrika-EU-Gipfels bekannten sich die Teilnehmer zum Ausbau ihrer Partnerschaft. Die Zusammenarbeit von Afrika und Europa habe »eine strategische Bedeutung für die beiden Seiten«, hieß es am Dienstag (30. Nov.) in der Abschlusserklärung des zweitägigen Gipfels in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Darin wurde auch ein Aktionsplan für das gemeinsame Vorgehen bis zum nächsten Gipfel festgelegt, der 2013 in Brüssel stattfinden soll. Er sieht eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte sowie den gemeinsamen Einsatz für ein stärkeres Gewicht Afrikas in internationalen Gremien wie den G20 vor.

Der Kommissionspräsident der Afrikanischen Union, Jean Ping, sagte, dass die Differenzen bei dem Treffen in Tripolis weitaus geringer als beim Gipfel 2007 in Lissabon gewesen seien. Beide Seiten bewegten sich »in die richtige Richtung« und zeigten mehr Flexibilität, führte Ping bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso aus.

Bei dem Gipfel waren allerdings auch Probleme zutage getreten. Ping nannte drei Bereiche: Hilfen der EU an afrikanische Länder, Investitionen und Handel. Verbesserungen in diesen Bereichen seien »wichtige Faktoren, um uns zu erlauben, uns zu entwickeln«, sagte Ping. Streit gibt es über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, zu denen die EU die afrikanischen Staaten drängt. Im Gegenzug für den Zugang zum EU-Markt verlangen die Europäer eine umfassende Öffnung der afrikanischen Märkte für EU-Exporte. Die afrikanischen Staaten wollen die Marktöffnung dagegen an Zugeständnisse der Europäer knüpfen, allen voran an die Einhaltung der sogenannten Millenniumsziele der UNO.

Die Afrikaner beklagten sich überdies darüber, dass die Investitionen der EU in ihren Ländern im Vergleich zu denen Chinas sehr gering ausfielen. Barroso hob hervor, dass mehr als die Hälfte der Entwicklungshilfen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten nach Afrika flössen. Er warb zugleich dafür, die Unterstützung auszudehnen. Entwicklungsländer könnten sich aber nicht allein durch Hilfsgelder in entwickelte Länder verwandeln, warnte der EU-Kommissionspräsident. In der Gipfel-Abschlusserklärung bekräftigten die EU-Staaten ihr Ziel, bis 2015 die seit Langem versprochenen 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts als Entwicklungshilfen bereitzustellen.

Ein weiterer Streitpunkt bei den Verhandlungen war der Klimaschutz. Eine gemeinsame Erklärung der afrikanischen und europäischen Staaten anlässlich der derzeitigen UN-Klimaverhandlungen im mexikanischen Cancún hatten die afrikanischen Außenminister bereits am Sonnabend abgelehnt. Das von den Europäern erarbeitete Dokument reflektiere »eine europäische Priorität«, sagten afrikanische Diplomaten.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Dezember 2010


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