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Dramatischer Anstieg der Gewalt am Wahltag

Mindestens 250 Tote bei Anschlägen in Afghanistan *

Die Stichwahl zur Präsidentschaft in Afghanistan hat stattgefunden. Allerdings haben die Taliban ihre Drohungen wahr gemacht und den Wahltag zum opferreichsten seit 2001 gemacht.

Die Stichwahl für das Präsidentenamt in Afghanistan ist von Anschlägen, Angriffen und Gefechten mit etwa 250 Toten überschattet worden. Nach Angaben von Regierung und Provinzbehörden wurden am Wahltag 176 Aufständische, 44 Zivilisten und 29 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Der Samstag war damit der blutigste Wahltag in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban Ende 2001. Aufständische verübten 273 Angriffe und Anschläge, um die Abstimmung zu stören, wie das Verteidigungsministerium am Sonntag mitteilte.

Bei der Stichwahl traten Ex-Außenminister Abdullah Abdullah sowie der frühere Finanzminister Aschraf Ghani gegeneinander an. Es handelt sich um den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes. Am Sonntag trafen im Hauptquartier der Wahlkommission (IEC) in Kabul erste Stimmzettel zur Auszählung ein. Mehr als sieben Millionen Afghanen hatten am Samstag den Angriffen der Taliban getrotzt und einen Nachfolger für Präsident Hamid Karsai gewählt. Die Wahlbeteiligung lag mit rund 60 Prozent weit über den Erwartungen. Frauen stellten nach IEC-Angaben 38 Prozent der Wähler.

Das vorläufige Wahlergebnis will die IEC wegen der langwierigen Stimmenauszählung und der Überprüfung von Betrugsvorwürfen erst am 2. Juli verkünden. Die Bekanntgabe des Endergebnisses ist für den 22. Juli geplant, die Amtseinführung des neuen Präsidenten soll am 2. August stattfinden.

Vizeinnenminister Mohammad Ajub Salangi teilte mit, Taliban-Kämpfer hätten elf Wählern deren mit Tinte markierten Finger abgeschnitten. Bei Wahlen in Afghanistan wird der rechte Zeigefinger des Wählers mit nicht abwaschbarer Tinte markiert, um eine mehrfache Stimmabgabe zu verhindern. Die Taliban hatten Afghanen mit dem Tode bedroht, sollten sie wählen gehen. Nach Angaben der Regierung wurden 400 000 Sicherheitskräfte eingesetzt, um Wähler und Wahllokale zu schützen.

Die USA, Deutschland und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprachen angesichts der Wahlbeteiligung von einem ermutigenden Signal. In Kabul und in anderen Städten bildeten sich Schlangen vor Wahllokalen. Aus einigen ländlichen Gegenden berichteten Augenzeugen allerdings, dass Drohungen der Taliban Wahlberechtigte abschreckten. In mehr als 330 Wahllokalen im Land gingen die Wahlzettel aus, die Wahlkommission musste Nachschub liefern. Auch Betrugsvorwürfe wurden laut. Die Wahlbeschwerdekommission meldete 275 Beschwerden.

Abdullah und Ghani kritisierten bei Pressekonferenzen, dass es zu Wahlbetrug gekommen sei. Beide meinten, sie hätten »sehr gut« bei der Abstimmung abgeschnitten. Karsai gratulierte seinen Landsleuten am Abend dazu, trotz der Gewalt mit einem »starken Herzen« gewählt und Afghanistan »stolz und erfolgreich« gemacht zu haben. Karsai sprach von einem »großen Schritt in Richtung Stabilität und Frieden«.

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. Juni 2014


Gewinnt doch wieder Karsai?

Präsidentschaftskandidaten Abdullah und Ghani erhoben Vorwürfe der Wahlfälschung

Von Thomas Ruttig **


Bei der Auszählung der Stimmen nach der Stichwahl um die Präsidentschaft Afghanistans braut sich eine handfeste Krise zusammen.

Afghanistan hat am Sonnabend gewählt, aber noch bevor irgendein offizielles Zwischenergebnis vorliegt, kriegen sich beide Kandidaten bereits in die Haare. Dr. Abdullah Abdullah, ein Mediziner und mehrmaliger früherer Außenminister, erklärte auf einer Pressekonferenz am Sonntagabend in Kabul, die Wahlen seien von »endemischen Fälschungen« geprägt gewesen. Er verlangte die Absetzung des Chefs der Wahlkommission, andernfalls werde er das Endergebnis nicht anerkennen. Ein vorläufiges amtliches Resultat wird erst für den 2. Juli erwartet.

Wie sein Gegenspieler, der Anthropologe und ehemalige Weltbankmitarbeiter Aschraf Ghani, hat Abdullah ein eigenes Datenzentrum eingerichtet. Dafür liefern zehntausende sogenannter Kandidatenagenten, die als Beobachter für die landesweit 23 136 Wahllokale in 6365 Stimmbezirken rekrutiert und trainiert worden waren, die Protokolle der Auszählungen zu. Abdullahs schwere Vorwürfe könnten deshalb bedeuten, dass ihm Schlimmes schwant, nämlich seine eigene Niederlage.

Ghani hielt dagegen und beschuldigte die von ehemaligen Mudschahedin dominierte afghanische Armee, sich zugunsten Abdullahs eingemischt zu haben. Zudem behauptet er, dass die Taliban Wähler zur Abstimmung ermutigt hätten.

Dagegen spricht, dass die Taliban am Wahltag 506 Angriffe vortrugen, bei denen etwa 250 Menschen getötet wurden, die Mehrzahl davon eigene Leute, aber auch Frauen, Kinder und Wahlhelfer. Ghanis Angaben könnten ein Nebelvorgang für Fälschungen sein, denn niemand kann sie nachprüfen. Vor allem unabhängige internationale Beobachter waren nur in geringer Zahl und in wenigen großen Städten zugegen. Da es in Afghanistan keine allseits anerkannten Institutionen zur Schlichtung gibt, etwa ein unabhängiges Verfassungsgericht, sind das die Vorboten für eine handfeste politische Krise.

Eigentlich sollte die Wahl die erste demokratische Amtsübergabe in der Geschichte Afghanistans ermöglichen. Nach zwölfeinhalb Jahren an der Staatsspitze scheidet Präsident Hamid Karsai aus. Nach dem ersten Wahlgang am 5. April, durchgeführt nach französischem System, übertraf keiner der zuletzt noch acht Kandidaten die 50-Prozent-Marke. Abdullah lag mit 45,0 Prozent der ausgezählten Stimmen klar vor Ghani mit 31,6 Prozent. Abdullah sicherte sich daraufhin die Unterstützung der meisten der nächststarken Bewerber, obwohl niemand sicher sein kann, ob die Wähler auch ihren Kandidaten folgen. In der ersten Wahlrunde wurde zudem deutlich, dass die Wähler zunehmend weniger nach ethnischen Kriterien entscheiden – was beide Kandidaten mit verstärkter ethnischer Mobilisierung beantworteten. Ghanis Vizepräsidentenkandidat, ein afghano-usbekischer Kriegsherr, erklärte, alle Usbeken und Turkmenen, die nicht für ihn und Ghani stimmten, seien »Verräter«.

Fraglich ist auch, ob einer der beiden Kandidaten gut für Afghanistan ist. Beide polarisieren ethnisch wie auch politisch. Abdullah und seine Anhänger wollen trotz erdrückender Beweise nichts davon wissen, dass sie in den 1980er und 1990er Jahren an massiven Kriegsverbrechen beteiligt waren. Ghanis marktliberale Strategien kollidieren mit den Realitäten eines der ärmsten Länder der Welt, das seinen Binnenmarkt schützen und entwickeln müsste.

Die Wahl als solche sollte westlichen Regierungen auch ein Argument dafür sein, die US-geführte Anti-Taliban-Intervention auch politisch als Erfolg darzustellen. Abgesehen vom andauernden Krieg stimmte aber auch der institutionelle Rahmen von vornherein nicht. Es gibt weder verlässliche Bevölkerungszahlen noch eine einheitliche Wählerliste. Die offiziell angegebene, positiv klingende Wahlbeteiligung von 60 Prozent (38 Prozent unter den Frauen) – von angenommenen 13,5 Millionen Wählern – sind reine Fiktion. Nun bewahrheitet sich in Afghanistan leider das Bonmot, dass nicht entscheidet, wer wählt, sondern wer zählt. Es könnte auch gut sein, dass als letzte Instanz wieder Karsai angerufen wird. Das würde ihm beim Gewinner eine starke Position für die Zukunft als Graue Eminenz sichern.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juni 2014


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