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Deal mit den "Warlords"

Abdullah Abdullah oder Aschraf Ghani: Am Samstag sind die Afghanen aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Wirklich souverän wird das Land dadurch nicht

Von Khaled Waziri, Kabul *

Afghanistan wählt einen neuen Präsidenten. Zwei Tage vor dem Stichentscheid der Wahl des neuen Staatschefs ist in der Nacht zum Donnerstag der Wahlkampf offiziell beendet worden. Die erste Wahlrunde am 5. April hatte der frühere Außenminister Abdullah Abdullah für sich entschieden. Mit 45 Prozent der Stimmen verfehlte er allerdings die erforderliche absolute Mehrheit, er muß also am Samstag gegen den früheren Finanzminister Aschraf Ghani antreten, den beim letzten Wahlgang mit 31,6 Prozent zweitplazierten. Der seit dem Sturz der Taliban 2001 in Kabul residierende Hamid Karsai durfte laut Verfassung nicht ein drittes Mal kandidieren.

Die Stichwahl birgt für Afghanen in mehrerer Hinsicht Gefahren. Die Taliban kündigten bereits an, die Abstimmung zu attackieren. Selbstmordanschläge und Angriffe auf Wahlbüros waren während des Wahlkampfes an der Tagesordnung. Abdullah selbst war erst am Freitag vergangener Woche einem Anschlag in Kabul unverletzt entgangen. Sieben Menschen waren dabei getötet worden.

Der Polizeichef von Kabul, Mohammed Ajub Salangi, versicherte auf jW-Nachfrage zwar, daß die Sicherheitskräfte die Lage im Griff hätten und auch auf den Urnengang am Samstag gut vorbereitet seien. Dennoch befürchtet auch er eine Zunahme der Gewalt vor der Stichwahl.

Wer mit den Menschen in der Hauptstadt Kabul und in Kandahar, Dschalalabad oder Masar-i-Scharif spricht, stellt die enorme Enttäuschung fest. In allen Teilen Afghanistans waren die Menschen im April zahlreich in die Wahlbüros geströmt, um an dieser als »historisch« deklarierten Wahl zu partizipieren. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sollte ein demokratischer Machtwechsel stattfinden.

Kurz nach der ersten Runde wurde sowohl von Wahlbeobachtern als auch von den Präsidentschaftskandidaten Abdullah und Ghani öffentlich die Vermutung geäußert, daß in vielen Provinzen eine massive Wahlmanipulation stattgefunden haben könnte. Tatsächlich haben sich während der Abstimmung in mehreren Provinzen in Südafghanistan kaum Wahlbeobachter aufgehalten. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage hatten viele bereits die Anreise als zu gefährlich befunden.

Der Vertrauensvorschuß ist verbraucht, die Wahl wird mittlerweile von vielen als »unglaubwürdig« betrachtet. Die Wahlbeteiligung am Wochenende dürfte deutlich unter der im April liegen.

Hinter verschlossenen Türen wurde in den vergangenen Wochen an Bündnissen und Koalitionen gearbeitet. Der ehemalige Außenminister und Drittplazierte Zalmay Rassoul bekundete schließlich seine Unterstützung für Abdullah Abdullah. Desweiteren gab es Treffen zwischen Aschraf Ghani und dem berüchtigten »Warlord« Abdul Rasul Sayyaf, der mit knapp sieben Prozent der Stimmen den vierten Platz eingenommen hatte. Der Governeur der südostafghanischen Provinz Nangahar, Gul Agha Sherzai, der sich ebenfalls als Präsident beworben hatte, erklärt mittlerweile seine Unterstützung für Abdullah. Sherzai gehört – ebenso wie Atta Noor, Governeur der nordafghanischen Provinz Balkh, der Abdullah bereits in der ersten Runde massiv unterstützt hatte – zu den mächtigsten »Warlords« in Afghanistan.

Es kommt nicht überraschend, daß jemand wie Atta Noor den Präsidentschaftskandidaten Abdullah unterstützt. Beide waren in der sogenannten Nordallianz, die von der US-amerikanischen Regierung seit jeher unterstützt wurde und die nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 an die Macht gekommen war. Auch Sherzai gehörte dieser an.

Abdullah Abdullah versucht ganz offensichtlich, seine Vergangenheit als führender Vertreter der »Nordallianz« und die damit einhergehenden Bündnisse mit bekannten und berüchtigten »Warlords« zu nutzen, um die Wahl zu seinen Gunsten zu entscheiden. Während Aschraf Ghani sich während des afghanischen Bürgerkrieges im Exil in den USA aufgehalten und dort als Professor gearbeitet hat, gehörte Abdullah zu denjenigen, die am Kampf gegen die Sowjetunion (1979–1989) und vor allem am darauf folgenden Bürgerkrieg teilnahmen.

Es waren eben jene »Warlords« der »Nordallianz«, die nach dem Rückzug der Roten Armee in Kabul einmarschierten und in den darauffolgenden Jahren Gewalt, Korruption und Anarchie Tür und Tor öffneten und dadurch überhaupt erst die Entstehung der Taliban ermöglichten. Nach dem Wüten der »Warlords« wünschten sich die Menschen nichts sehnlicher als ein wenig Recht, Ordnung und so etwas wie Gerechtigkeit. Genau das boten die Taliban, wenn auch in einer extrem radikalen und extremistischen Ausprägung, den Menschen an. Und so konnten die Taliban innerhalb kürzester Zeit erstarken und eine Provinz nach der anderen für sich einnehmen.

Es ist wichtig, sich diese historischen Zusammenhänge zu vergegenwärtigen, denn die heutige Situation in Afghanistan ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der zwischen 1992 und 1996 als eben jene grausamen »Warlords« an der Macht waren. Es sind heute dieselben Leute, die damals Kabul in Schutt und Asche gelegt und Tausende unschuldige Zivilisten getötet hatten, die nun – wieder einmal – durch die Unterstützung der USA an der Macht sind.

Auch heute herrscht – sowohl in der Hauptstadt Kabul wie auch in vielen Provinzen Afghanistans – wieder Anarchie. Wer ein Gewaltverbrechen begeht, braucht in den meisten Fällen nicht zu befürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er zieht sich für ein paar Monate in eine entlegene Provinz zurück und kann danach wieder unbehelligt in Kabul leben. Der Staatsapparat ist überfordert und außerstande, auch nur ansatzweise Recht und Ordnung zur Geltung zu bringen.

Und so ist es für Afghanistans Zukunft nicht von entscheidender Bedeutung, ob Abdullah Abdullah oder Ashraf Ghani die Wahl gewinnt. Beide Kandidaten versichern in praktisch jedem Gespräch, im Falle ihrer Präsidentschaft bereits in den ersten Amtstagen das »Bilateral Security Agreement« (BSA) unterzeichnen zu wollen. Dieser »bilaterale Sicherheitsvertrag« soll es den USA und der NATO ermöglichen, auch nach 2014 Militärstützpunkte auf afghanischem Boden zu unterhalten. Außerdem garantiert das Abkommen den internationalen Truppen auch über 2014 hinaus vollkommene Immunität, d.h. Soldaten müssen sich auch in Zukunft im Falle von Kampfgefechten oder Mord und Totschlag nicht rechtfertigen. Die afghanischen Behörden wären in keiner Weise befugt, ausländische Soldaten in irgendeiner Weise zur Rechenschaft zu ziehen.

Souverän ist das Land am Hindukusch also auch nach der Wahl am 14. Juni nicht. Ein vorläufiges Ergebnis will die Wahlkommission am 2. Juli verkünden, das amtliche Endergebnis soll am 22. Juli veröffentlicht werden.

* Aus: junge Welt, Freitag 13. Juni 2014


»Es geht um die Sicherung des Ressourcenflusses aus dem Westen«

In einer im Mai veröffentlichten Analyse (»Weder Musterwahl noch Farce: Die afghanischen Präsidentschaftswahlen 2014«) des regierungsnahen Berliner Think-Tank SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) heißt es zur Abstimmung an diesem Samstag nüchtern:

(…) Allen Akteuren des politischen Establishments ist bewußt, daß nur ein im Ausland anerkannter Präsident den enormen Ressourcenzufluß von vor allem westlichen Gebern aufrechterhalten kann. Es ist daher kein Zufall, daß beide Gewinner des ersten Wahlgangs fließend Englisch sprechen und über Erfahrung auf dem internationalen Parkett verfügen. Aschraf Ghani arbeitete sogar mehrere Jahre für die Weltbank.

Der Fluß der internationalen Mittel ist es auch, der die Akteure der afghanischen Zentralregierung am stärksten mit denen in der Peripherie verbindet. Letztere können diese Ressourcen zuvorderst über staatliche Positionen erlangen, die wiederum der Präsident bis hinunter auf die Distriktebene verteilt. Dementsprechend führten die meisten Kandidaten bereits vor dem ersten Wahlgang Sondierungsgespräche mit jenen politischen Akteuren in den Provinzen, die in der Lage schienen, den Wahlausgang lokal entscheidend zu beeinflussen. Im Gegenzug können diese im Falle eines Wahlsiegs mit Posten oder sonstigem Entgegenkommen rechnen. Die lokalen Potentaten streben ihrerseits an, möglichst mit dem aussichtsreichsten Kandidaten verbunden zu sein.

Letztlich ist es ein gemeinsames Interesse daran, den ökonomischen Status quo aufrechtzuerhalten, der die entscheidenden politischen Akteure dazu bringt, die Regeln der Wahlen im weitesten Sinne einzuhalten. Die westlichen Demokratisierungsbemühungen waren somit nur bedingt erfolgreich. (…)




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