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Nicht wirklich stabil

Präsidentenwahl in Afghanistan von Terroranschlägen überschattet. Kandidaten ernennen Fundamentalisten und Kriegsverbrecher zu Stellvertretern

Von Knut Mellenthin *

Afghanistan wählt am heutigen Sonnabend (5. April) einen neuen Präsidenten. Es ist das dritte Mal seit der Besetzung des Landes durch westliche Interventionstruppen im Oktober und November 2001. Präsident Hamid Karsai darf nach zwei regulären Amtszeiten nicht erneut kandidieren. Die Entscheidung fällt voraussichtlich nur unter drei der acht Bewerber: Abdullah Abdullah, der als Favorit des Westens gilt, Außenminister Salmai Rassul, der die Unterstützung des Amtsinhabers hat, und Aschraf Ghani, der als ehemaliger Funktionär der Weltbank den westlichen Regierungen vermutlich auch nicht völlig unsympathisch wäre. Von der Ausbildung her sind Abdullah und Rassul Mediziner, Ghani Anthropologe. Keiner von ihnen hat eine ausgesprochene Warlord-Vergangenheit, was unter afghanischen Politikern eher selten ist. Alle drei repräsentieren das alte Nordallianz-Milieu, das hauptsächlich aus nicht-paschtunischen Volksgruppen – Tadschiken, Usbeken, Hazara – bestand und vom Westen, aber auch vom Iran gegen die Taliban unterstützt wurde.

Wahl in Afghanistan: 20 Tote, 140 Angriffe, 162 Betrugsvorwürfe

Weniger Anschläge als befürchtet, mehr Teilnehmer als erhofft: Die Präsidentenwahl in Afghanistan verlief auf den ersten Blick erfolgreicher als erwartet. Doch nun mehren sich erste Betrugsvorwürfe.
( Meldungen am 6. April 2014)



Falls keiner der Konkurrenten die absolute Mehrheit erreicht, gibt es einen zweiten Wahlgang zwischen den beiden Bestplazierten. Es gibt nur wenige, unzuverlässige Meinungsumfragen. Sie sehen Abdullah mit kleinem Vorsprung vor Ghani, etwa im Verhältnis 30 zu 25 Prozent, während Rassul weit abgeschlagen erscheint. Sollte dieser dennoch wider Erwarten bei der Stimmauszählung vor einem der beiden anderen Kandidaten liegen, wäre mit massiven Fälschungsvorwürfen zu rechnen, denen westliche Unterstützung sicher wäre. Die USA hatten wegen solcher Vorwürfe nach der letzten Präsidentenwahl im August 2009 einen zweiten Wahlgang erzwungen. Dem amtlichen Ergebnis zufolge hatte Karsai damals ganz knapp die absolute Mehrheit erreicht, während Abdullah bei 30,6 Prozent lag. Der Amtsinhaber fügte sich dem Druck Washingtons erst nach zweimonatigem Sträuben. Kurz vor der Stichwahl im November 2009 gab Abdullah jedoch mit der nicht hundertprozentig überzeugenden Begründung, daß doch nur wieder schwere Fälschungen zu erwarten seien, den Verzicht auf seine Kandidatur bekannt.

Jeder Kandidat muß nach dem Wahlgesetz mit einem ersten und einem zweiten Stellvertreter ins Rennen gehen. Dadurch ergeben sich viele interessante Kombinationen, weil die meisten Bewerber sich bemühten, Personen ins Team zu holen, die eine andere ethnische Herkunft und auch einen anderen Lebenslauf haben als sie selbst. Abdullahs Stellvertreter, ein Hazara und ein Paschtune, kommen beide aus militanten fundamentalistischen Organisationen. Ghani hat als ersten Stellvertreter den berüchtigten Usbeken Abdul Raschid Dostum nominiert – einen für massenhafte schwere Kriegsverbrechen verantwortlichen ehemaligen Warlord. Rassul, selbst ein Paschtune, hat den Tadschiken Ahmad Zia Massud im Team. Er ist der Bruder des früheren Nordallianz-Warlords Ahmad Schah Massud, der zwei Tage vor dem 11. September 2001 ermordet wurde.

Die Taliban hatten massive Terroraktionen zur Störung der Wahl angekündigt. Tatsächlich blieb der Umfang ihrer Anschläge und bewaffneten Angriffe während des Wahlkampfs aber überschaubar. Darunter waren ein Überfall von vier Jugendlichen auf das Kabuler Luxushotel Serena am 21. März, bei dem neun Menschen getötet wurden, ein Selbstmordattentat vor dem Innenministerium am Mittwoch, ein Angriff auf das Hauptquartier der Wahlleitung am vorigen Sonnabend und die Ermordung eines Kandidaten für die gleichfalls am heutigen Sonnabend stattfindenden Lokal- und Regionalwahlen. Am Freitag wurde die deutsche Foto-Reporterin Anja Niedringhaus, die für die Nachrichtenagentur AP arbeitete, in der an Pakistan grenzenden ostafghanischen Provinz Chost von einem Polizisten erschossen. Eine weitere AP-Journalistin wurde bei dem Angriff verletzt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. April 2014


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